Netzhautdegenerationen treten nach wie vor gehäuft bei vielen Menschen auf. Gentherapien oder Netzhautimplantate sind auf dem Sprung von der Grundlagenforschung zur Anwendung – dies könnte viele Menschen vor einer Erblindung bewahren.
Netzhautdegenerationen haben viele Gesichter: Während bei manchen Krankheitsbildern Kinder kurz nach der Geburt erblinden, entwickeln sich andere Formen erst im Alter. Eines haben alle Leiden gemeinsam: Kausale Therapien gibt es auch nach jahrzehntelanger Forschung nicht. Jetzt hoffen Patienten und Ärzte gleichermaßen auf Gentherapien. Alternativ stehen Retina-Chips kurz vor ihrem Durchbruch. Sehfarbstoff aus dem Recycling Laut Pro Retina Deutschland leiden bundesweit rund 2.000 Menschen an der Leberschen kongenitalen Amaurose (LCA). Bislang fanden Humangenetiker 16 Mutationen, die hier Relevanz haben. Bei rund 15 Prozent der Patienten steckt ein Fehler im RPE65-Gen dahinter, der zu defekten Proteinen führt. Betroffene können all-trans-Retinal nicht mehr zu 11-cis-Retinal recyceln, und die Sehbeeinträchtigung schreitet bis zur völligen Erblindung fort. Hier haben Kollegen gute Erfahrung mit gentherapeutischen Ansätzen gemacht. Sie klonierten das RPE65-Gen in speziellen Vehikeln, sprich Vektoren. Bewährt haben sich adenoassoziierte Viren (AAV). Patienten wird ein AAV-Konstrukt inklusive des RPE65-Gens per Injektion unter die Netzhaut gespritzt, und AAV infiziert die Zellen. Dort entsteht das funktionsfähige Protein. Augen sind für die Gentherapie geradezu prädestiniert: Ein Austausch mit anderen Organsystemen erfolgt kaum, und fulminante Reaktionen des Immunsystems auf AAV treten ebenfalls nicht auf. Bei Studien lassen sich ebenfalls Vergleiche zwischen einem behandelten und einem unbehandelten Auge anstellen. Frühe Arbeiten zeigten, dass vor allem Kinder und Jugendliche von der innovativen Behandlung profitieren. Ein Follow-up bestätigte jetzt entsprechende Ergebnisse: Bei Patienten im Alter zwischen elf und 30 Jahren verbesserte sich diverse Parameter deutlich, Hinweise auf systemische Effekte fanden Wissenschaftler jedoch nicht. Ihr Fazit: „Die Gentherapie hat bei erblichen Netzhauterkrankungen das Potenzial, in Zukunft Teil der klinischen Praxis werden.“ Untergang der Stäbchen Weitere Untersuchungen gingen der Frage nach, ob auch Retinitis pigmentosa gentherapeutisch zu behandeln wäre. Schätzungsweise 40.000 Menschen leiden deutschlandweit an dieser Krankheit mit Zerstörung von Fotorezeptoren. Zuerst sterben besonders lichtempfindliche Stäbchen ab – Patienten klagen über Nachtblindheit. In späteren Phasen gehen auch Zellen zu Grunde, welche der Farbwahrnehmung dienen. Auch hier machen sich genetische Einflussfaktoren bemerkbar, bislang fand man 45 relevante Gene, unter anderem CNGB1. Wissenschaftler aus München und Tübingen haben einen gentherapeutischen Ansatz im Mausmodell erfolgreich getestet. Sie brachten ebenfalls über adenoassoziierte virale Vektoren eine intakte Kopie des CNGB1-Gens unter die Retina ein. CNGB1 codiert für ein Transmembranprotein, das zusammen mit anderen Eiweißen Ionenkanäle aufbaut. Transgene Mäuse, die kein CNGB1 exprimierten, reagierten nach Gabe des Vektors wieder auf Lichtreize. Ein Jahr später zeigte sich der Effekt immer noch. Jetzt gilt, die Methodik auf Menschen zu übertragen. Rettet die Makula Gentherapeutische Ansätze könnten auch bei altersbedingten Makuladegenerationen (AMD) zum Zuge kommen. Nach wie vor führt diese Krankheit zu den meisten Fällen von Erblindung in späten Lebensjahren. Bei der feuchten Form entstehen unter der Netzhaut neue Gefäßmembranen, inklusive zerstörerischer Exsudationen. Um der Neovaskularisation entgegenzuwirken, spritzen Augenärzte mehrfach Ranibizumab beziehungsweise Bevacizumab in den Glaskörper und fangen so den Gefäßwachstumsfaktor VEGF (Vascular Endothelial Growth Factor) ab. Patienten empfinden intraokulare Injektionen als äußerst unangenehm. Es gibt Alternativen: Klinische Studien der Phasen I beziehungsweise Phase II gehen der Sicherheit und Wirksamkeit von rAAV.sFlt-1 beziehungsweise AAV2-sFLT01 nach. Auch hier handelt es sich um nicht-pathogene Viren mit einem DNA-Abschnitt, der für therapeutische Proteine codiert. Bei der Expression im Auge unterdrücken Genprodukte das Wachstum von Blutgefäßen unter der Retina. Im Gegensatz zu Anti-VEGF-Proteinen soll der gentherapeutische Ansatz über Jahre erfolgreich sein – bei nur einer subretinalen Gabe des Vektors. Farbstoffe aus dem Ersatzteillager Anstatt Gendefekte bei Retinitis pigmentosa zu beheben, ging ein internationales Forscherteam andere Wege: Sie schleusten in Mäuseaugen zusätzliches Erbgut für Halorhodopsin ein. Das Protein kommt normalerweise im Halobacterium salinarum vor, einem Bakterium aus Salzseen, das aus Sonnenlicht Energie gewinnt. Halorhodopsin ist dem menschlichen Sehpurpur nicht unähnlich, hat aber ein anderes Absorptionsmaximum. Mäuse schien das nicht sonderlich zu stören, sie reagierten trotzdem auf Lichtreize. Ohne Reste von Zapfen in zentralen Regionen der Retina versagte das Pigment jedoch kläglich. Wissenschaftler führten deshalb vor ihren Experimenten eine optische Kohärenztomographie aus, um das Auge zu beurteilen. Kleines Molekül – große Wirkung Anstatt über gentherapeutische Umwege Proteine vor Ort zu erschaffen, brachten Forscher eine synthetische Verbindung namens AAQ (Acrylamide Azobenzene Quaternary Ammonium) direkt in die Augen von Versuchstieren ein. Das kleine, organische Molekül bindet oberflächlich an Zellen der Netzhaut und wirkt – ähnlich wie Retinal – als Fotoschalter. Im Tierexperiment zeigten sich beachtliche Effekte. Offen ist, inwieweit sich der Nutzen in klinischen Studien reproduzieren lässt und ob AAQ auf lange Sicht unerwünschte Effekte zeigt. Sensoren statt Sinneszellen Weitere Innovationen kommen aus der Mikroelektronik: Wie die amerikanische Innovationsschmiede „Second Sight Medical Products“ angekündigt hat, steht ihr Retina-Implantat „Argus®“ II kurz vor seiner Zulassung: Bis zum 28. September wird die US Food and Drug Administration Daten einer Multicenterstudie prüfen, um im besten Fall eine „Humanitarian Device Exemption“ (Zulassung als Medizinprodukt) zu erteilen. Mit einer CE-Kennzeichnung kann „Argus®“ II bereits punkten. Zur Idee: Videokameras in einer Brille generieren elektrische Signale, die drahtlos an Retinaimplantate gelangen. Diese Hightech-Chips sorgen für Impulse – was unser Gehirn als Licht wahrnimmt. Alternativ testen Ingenieure subretinale Implantate, die Licht auch ohne Kamera in elektrische Signale verwandeln. Doch ganz so einfach ist das nicht: Patienten müssen erst lernen, in gewissem Umfang wieder gröbere Strukturen zu erkennen. Ihre Lebensqualität verbessert sich nachweislich, Gesichter oder Landschaften bleiben ihnen verschlossen. Nur durch eine bessere Auflösung wird dieses Problem nicht zu lösen sein. Geräte erzeugen momentan ein Signalmuster, das neuronal nur teilweise interpretiert werden kann. Forscher am Weill Medical College of Cornell University, New York, sehen es als ihre Herausforderung, die elektrischen Impulse besser an physiologische Gegebenheiten zu adaptieren. Ihr System simuliert den biologischen Code der Retina. Das heißt, visuelle Reize werden in Aktionspotentiale umgewandelt, wie sie die Netzhaut normalerweise produziert. Kombinierten Forscher den Retina-Code mit hardwareseitigen Methoden zur Verbesserung der Auflösung, gelangten sie in Bereiche, die schon sehr nahe am normalen Sehempfinden lagen. Zumindest Mäuse hatten damit einen deutlich besseren Durchblick.