Sie schützt vor zahlreichen Pathogenen, blockiert aber auch etliche Pharmaka: die Blut-Hirn-Schranke. Mit zahlreichen Tricks aus Physik und Chemie überwinden Ärzte therapeutische Barrieren.
Eigentlich hat die Evolution mitgedacht: Unser wichtigstes Organ, das Gehirn, sitzt nicht nur gut geschützt im Schädel. Auch zum Kreislauf hin gibt es ausgeklügelte Barrieren: die Blut-Hirn-Schranke (BHS). Aus pharmakologischer Sicht ist eine derart hermetische Barriere in vielen Fällen erwünscht, würde ansonsten jeder Arzneistoff zentral wirken. Gerade bei Alzheimer, Parkinson, multipler Sklerose oder bei Tumorerkrankungen wäre es von Vorteil, Wirkstoffe leichter in das Gehirn zu bringen.
Wenn Endothelzellen dicht machen
Hinter der BHS steckt ein raffiniertes Netzwerk: Endothelzellen verschließen Kapillaren der BHS ohne Fenestrierung beziehungsweise Spalten. Zell-Zell-Kontakte bilden enge Verbindungen, die Tight Junctions, und Transmembranproteine wie Occludin beziehungsweise Claudine kommen als Siegellack zum Einsatz. Fehlen Eiweiße aufgrund genetischer Defekte, wird die Schranke durchlässig. Ansonsten liegt der transendotheliale Widerstand 150 Mal über dem Wert von Kapillaren anderer Körperregionen.
Taxi nach oben
Die Barriere hat jedoch Grenzen: Lipophile, niedermolekulare Stoffe können passieren. Für hydrophile Substanzen wie Zucker, Aminosäuren oder Nukleinsäuren gibt es stattdessen eigene Transporter. Und Kanalproteine, so genannte Aquaporine, kommen beim gezielten Einströmen von Wasser zum Einsatz, während Aquaglyceroporine Hintertürchen für Glycerin, Monocarbonsäuren und Harnstoff sind. Größere Moleküle wie Transferrin, Insulin oder das Low Density Lipoprotein (LDL) gelangen über einen speziellen Mechanismus durch die BHS: Rezeptoren auf der Zellmembran erkennen passende Moleküle im Blut. Über Vesikel geht ihre Reise auf die andere Seite von Epithelzellen. Die Prozesse helfen, um Arzneistoffe in das Gehirn zu bringen, doch gibt es auch brachiale Methoden.
Direkt ins Gehirn
Warum nicht Arzneistoffe gezielt in den Liquor cerebrospinalis oder in die Hirnventrikel injizieren? Das Verfahren funktioniert, ist jedoch für Patienten unangenehm und für Ärzte methodisch anspruchsvoll. Deshalb hat die Medizintechnik Ommaya- oder Rickham-Reservoirs entwickelt: kleine Behälter, direkt unter der Kopfhaut, inklusive Katheter bis in das Vorderhorn des Seitenventrikels. Biologisch abbaubare Implantate basieren ebenfalls auf dem Prinzip von Wirkstoffdepots: Nach Entfernung hochgradig maligner Gehirntumoren legen Neurochirurgen Carmustin-haltige Wafer in die verbliebene Kavität. Eine polymere Matrix zerfällt mit der Zeit und setzt den Arzneistoffs gezielt vor Ort frei – bei vergleichsweise wenig Nebenwirkungen.
Schall öffnet Tür und Tor
Mechanische Kräfte führen ebenfalls zum Ziel. Seit Jahren experimentieren Neurobiologen mit fokussiertem Ultraschall. Nach anfänglichem Misserfolg, es traten unwiderrufliche Schäden auf, wurde ihr Verfahren mittlerweile professionalisiert. Der Trick: schwächerer, aber gepulster Ultraschall zusammen mit mikroskopisch kleinen Bläschen aus Fluorkohlenwasserstoffen in einer Albuminhülle. Durch diese „Microbubbles“ treten Scherkräfte auf, welche die BHS kurzzeitig und vor allem reversibel öffnen. Bei gleichzeitiger Kontrolle im MRT konnten Forschern sogar Wirkstoffe in bestimmte Gehirnareale transportieren.
Einfach aufgelöst
Bei Nagern funktionieren auch Tenside wie Natriumlaurylsulfat beziehungsweise Lösungsmittel, etwa Alkylglycerole. Hyperosmolare Lösungen verschiedener Zucker haben ähnliche Effekte. Nachdem Mäuse entsprechende Stoffe über die Halsschlagader bekamen, öffnete sich die BHS für zwei bis drei Stunden – Zeit genug, um Arzneistoffe zu verabreichen. Forscher der New Yorker Cornell University aktivierten speziell mit Regadenoson Adenosin-Rezeptoren. Daraufhin konnten Antikörper gegen das β-Amyloid bei einem Alzheimer-Modell einwandern. Regadenoson zeigte dosisabhängige und zeitlich beschränkte Effekte. Diverse Bestandteile des Blutplasmas wie Albumine haben ebenfalls ungehinderten Zutritt und können toxisch wirken.
Moleküle mit Passierschein
Dieses Problem lässt sich umgehen, indem man statt einer unselektiven Öffnung der BHS besser Arzneistoffe derivatisiert. Beispielsweise haben Chemiker zwei Moleküle des HIV-Therapeutikums Abacavir mit Linkern verknüpft. Prompt gelangte das deutlich lipophilere Prodrug über Transporter zum Ort des Geschehens – und zerfiel zum wirksamen Pharmakon. Das ist insofern von Bedeutung, als sich zerebrale HIV-Herde nur schwer bekämpfen lassen, Viren gelangen sowohl über Vesikel als auch über Leukozyten als „trojanischen Pferde“ durch die BHS. Bei Parkinson hilft ebenfalls ein Kunstgriff: Im Gegensatz zu Dopamin passiert Levodopa die BHS über einen Transporter. Im Gehirn angelangt, wird daraus Dopamin – eine Möglichkeit, entsprechende Mängel auszugleichen. Ansonsten hat sich die Vektorisierung bewährt: Arzneistoffe werden chemisch mit Antikörpern gegen Insulin- oder Transferrin-Transporter verbunden. Über rezeptorvermittelte Transzytose passieren sie ebenfalls die BHS.
Kleine Teilchen auf großer Fahrt
Auch Nanopartikel gelangen in das Gehirn – eine der vielversprechendsten Anwendungen kleiner Teilchen. Forscher mussten sich nach etlichen Misserfolgen jedoch Tricks überlegen: Sie funktionaliserten die Oberfläche von Polyacrylat-Teilchen mit Polyethylenglycolen. Nach der Injektion adsorbierten Partikel aus dem Blutplasma Apolipoproteine, und über körpereigene LDL-Rezeptoren ging die Reise bis zum Gehirn. Bei Mäusen ließen sich Glioblastome mit Doxorubicin-haltigen Nanopartikeln erfolgreich therapieren, im Vergleich zur intravenösen Applikation stieg der Spiegel des Arzneistoffs auf das 60-Fache an. Ähnlich erfolgreich waren Forscher der Max-Planck-Gesellschaft mit virusähnlichen Partikeln (Virus-Like-Particles).
Die künstlich hergestellten Proteinkapseln simulieren Prozesse, wie sie bei Infektionen des Gehirns ablaufen. Nur besteht die Fracht nicht aus Nukleinsäuren, sondern aus Arzneistoffen. Entsprechende Arbeiten zeigen auch, in welche Richtung die Reise gehen wird: weg von einer unselektiven Öffnung der BHS, hin zu gezielten Therapien.