Seit 2006 steigt die Zahl der Geburten in Deutschland an – gleichzeitig schließen immer mehr Geburtsabteilungen. Folgen sind weite Anfahrtswege zur Klinik, überfüllte Geburtsstationen und überlastete Hebammen. Bisher sind von der Politik keine Lösungen vorgesehen.
Deutschland – ein Land, das langsam ausstirbt, so lautete die überspitzte These noch vor wenigen Jahren. Die Zahl der alten Menschen steige immer weiter an, während die Geburtenrate stetig sinke. Doch in den letzten Jahren hat sich das Bild gewandelt: Seit 2006 ist ein Zuwachs an Geburten in Deutschland zu beobachten. Besonders deutlich sind die Zahlen dabei seit 2013 gestiegen: Im Jahr 2006 wurden nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (destatis) 686.000 Kinder geboren. 2014 waren es bereits 715.000 Babys – 33.000 mehr als im Vorjahr. Und 2015 lag die Geburtenzahl bei 738.000 Kindern – es handelt sich um die höchste Geburtenrate seit der Jahrtausendwende. Auch in Großstädten wie Berlin und München lässt sich der Trend beobachten: In Berlin stieg die Geburtenrate in den letzten 10 Jahren um 25 Prozent, in München um rund 30 Prozent. Ein Grund für den Zuwachs könnte nach Angaben des Statistischen Bundesamts sein, dass die Zahl der Frauen zwischen 26 und 35 Jahren seit 2008 gleich bleibt bzw. sogar steigt – und diese Frauen haben die höchste Geburtenrate. Weiterhin tragen auch junge Zuwanderinnen zu der steigenden Geburtenrate bei. Dies mache jedoch nur einen kleinen Anteil des Anstiegs aus.
Diese Entwicklung könnte in nächster Zeit zum Problem werden. Denn gleichzeitig ist die Zahl der Kreißsäle und Geburtsabteilungen in den letzten Jahren drastisch gesunken. Nach einem Bericht des Deutschen Ärzteblatts gab es 1991 noch 1.186 Kliniken, in denen Geburten möglich waren. Ende 2015 waren es dagegen nur noch 709. Das entspricht einem Rückgang von rund 40 Prozent. Klar ist: Der Status Quo bedarf einiger Verbesserungsmaßnahmen, und zwar auf politischer Ebene. Doch da müssen sich Kliniken und Eltern wohl noch eine Weile gedulden. Denn bisher haben weder die Regierung noch der Gemeinsame Bundesausschuss konkreten Maßnahmen beschlossen, die den aktuellen Missständen entgegenwirken könnten. In den letzten zwei Jahren hat sich die Situation weiter verschlechtert: Nach Angaben des Deutschen Hebammen-Verbands wurden seit Januar 2015 insgesamt 40 Kreißsäle geschlossen, elf weitere sind von der Schließung bedroht und sechs sind zumindest vorübergehend geschlossen. Betroffen sind dabei sowohl Städte als auch ländliche Regionen: Besonders problematisch ist die Lage laut Deutschem Hebammen-Verband in Ballungsräumen wie Frankfurt am Main oder München, aber auch in ländlich geprägten Regionen wie im Bayrischen Wald oder in der Uckermark.
Zur Problematik der schließenden Geburtsabteilungen komme zusätzlich ein Fachkräftemangel, erläutert Joachim Odenbach, Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Deutschen Krankenhausgesellschaft e.V. (DKG). „Das betrifft vor allem die Hebammen.“ So gebe es inzwischen deutlich weniger freiberufliche bzw. Beleg-Hebammen. „Der Beruf der Hebamme wird für viele immer unattraktiver, weil die Arbeit anstrengend ist, die Bezahlung zum Teil schlecht ist und sehr hohe Haftpflichtversicherungs-Summen gezahlt werden müssen“, sagt auch Anthuber. „Viele haben zudem Angst vor juristischen Problemen.“ Denn wenn bei der Geburt ein Problem auftrete, sei die Bereitschaft der Eltern, vor Gericht zu gehen, heute deutlich höher als früher. „All das läuft darauf hinaus, dass es in ein paar Jahren einen deutlichen Hebammen-Mangel geben wird, der zu einem echten Problem werden könnte“, betont Anthuber. Ein weiteres Problem sei, dass Geburtsabteilungen häufig schließen würden, ohne dass es ein Konzept dafür gebe, wo die Frauen stattdessen aufgenommen werden könnten, sagt Steppat. „Es wird nicht etwa ein, zwei Jahre im Voraus geplant, wohin die Geburten verteilt werden könnten. Stattdessen werden die benachbarten Kliniken häufig von der Situation überrascht und müssen improvisieren.“ Diese Erfahrung hat auch Christoph Anthuber gemacht: „Wir wurden ziemlich plötzlich mit der Situation konfrontiert, dass benachbarte Kliniken ihre Geburtsstation geschlossen haben. Dadurch hatten wir keine Möglichkeit, uns mit zeitlichem Vorlauf darauf vorzubereiten.“
Auch viele Mütter, die in letzter Zeit ein Baby zur Welt gebracht haben, berichten von schwierigen Situationen. So wurde Jenny V. von einer Geburtsklinik in Münster abgewiesen, obwohl sie sich zwei Wochen vorher zur Geburt angemeldet hatte und in der Klinik schon Voruntersuchungen stattgefunden hatten. „Die Begründung lautete, die Geburtsstation sei voll“, berichtet die 31-Jährige, die im Mai ihr erstes Kind bekam. „Ich hatte extreme Schmerzen – trotzdem mussten wir 20 Minuten bis zur nächsten Klinik fahren.“ Ähnlich erging es Christiane J. aus Berlin. Sie bekam 2016 mit 39 Jahren ihr drittes Kind. „Es war zunächst schon schwierig, sich in einer Geburtsklinik anzumelden“, berichtet sie. „Kurz vor der Geburt hatte ich dann starke Bauchkrämpfe und wurde mit dem Krankenwagen zum nächsten Krankenhaus gefahren.“ Dort wurde sie aber wegen Überfüllung abgewiesen – und erst die vierte Klinik, bei der sie anrief, konnte sie schließlich aufnehmen.
Ein wesentlicher Grund dafür, dass immer mehr Geburtsstationen schließen, ist ihre wirtschaftlich schwierige Lage. „Geburten werden insgesamt unzureichend vergütet“, sagt Steppat. „Da in diesem Fall ja niemand krank ist, gibt es keine angemessenen Kriterien, nach denen die ‚Qualität‘ einer Geburt bestimmt und aufgewertet werden könnte.“ Vor allem bei Kliniken mit kleineren Geburtsabteilungen sei eine Kostendeckung quasi nicht möglich, erläutert Odenbach. „Für diese Kliniken ist es schwierig, ihre Geburtsstation zu halten.“ Erst Ende 2016 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) Regelungen zum Sicherstellungszuschlag beschlossen. Dieser soll gewährleisten, dass Kliniken, die nicht kostendeckend arbeiten, aber für eine flächendeckende Versorgung notwendig sind, ergänzende finanzielle Mittel erhalten können. Ein Sicherstellungszuschlag wird aber nur bewilligt, wenn das Krankenhaus als Ganzes defizitär ist – und wenn zur Klinik eine innere Abteilung und eine Chirurgie gehören. „Die Geburtshilfe ist darin nicht als maßgebliche Abteilung vorgesehen“, sagt Odenbach. „Aus unserer Sicht ist das ein Fehler, der dringend behoben werden muss.“ Die Bundesländer würden sich darauf berufen, dass es in den Kliniken ausreichend Plätze gebe, um alle Geburten unterzubringen, sagt Steppat. Dass die Arbeits- und Gebärbedingungen auf den Stationen schwierig seien, finde dabei keine Berücksichtigung. „Mehr Personal einzustellen und neue Räumlichkeiten zu schaffen, ist natürlich mit hohen Kosten verbunden“, sagt Steppat. „Aber die Länder sparen an den Investitionskosten für Sachmittel – und viele Kliniken sparen wiederum am Personal, um mit dem eingesparten Geld Geräte oder Renovierungen zu finanzieren.“
Möglichkeiten, die Situation in den Geburtsabteilungen zu verbessern, gäbe es aber durchaus. „In jedem Fall wären höhere Fallpauschalvergütungen eine große Hilfe für Kliniken mit kleineren Geburtsabteilungen“, sagt Odenbach. „Zum anderen sollte der Sicherstellungszuschlag auch für Geburtsabteilungen gelten. Und die Regelung, dass dafür das gesamte Krankenhaus defizitär sein muss, sollte wegfallen.“ Weiterhin plädiert die DKG dafür, dass eine Versorgung gewährleistet sein sollte, bei der die Fahrtzeit zur nächsten Geburtsklinik maximal 30 Minuten beträgt. Wichtig sei es, Ärzte und Hebammen besser zu bezahlen und weiteres Personal einzustellen, betont Anthuber. Darüber hinaus sollten Nachtdienste und Fälle, bei denen ein hohes Risiko für Geburtskomplikationen bestehe, deutlich besser honoriert werden. „Eine Geburt ist ein wichtiger Moment im Leben jedes Menschen – und unsere Gesellschaft sollte bereit sein, diesen Vorgang finanziell gut auszustatten“, sagt der Facharzt. Allerdings könne es sein, dass die Politik kleinere Geburtsabteilungen in Zukunft weniger unterstützen wolle, so Anthuber. „In Zeiten, in denen Qualitätssicherung eine wichtige Rolle spielt, werden aus politischer Sicht möglicherweise größere Geburtsabteilungen bevorzugt – mit dem Argument, dass sie eher rentabel arbeiten und dass hier apparative und personelle Strukturen besser sind.“ So plädieren einige Krankenkassen wie die AOK für eine Mindestzahl von Geburten pro Jahr, damit eine Geburtsstation erhalten bleiben kann. „Alle Überlegungen müssen sich daran messen lassen, dass weiterhin eine hochwertige, aber eben auch wohnortnahe Versorgung gewährleistet ist“, sagt Odenbach dazu.
Aus Sicht von Steppat sollten betroffene Frauen das Thema mehr in die Öffentlichkeit bringen. „Man sollte weniger ein berufspolitisches Thema daraus machen als vielmehr ein Versorgungsthema“, sagt die Hebamme. „Schließlich wird jeder von uns geboren, und es ist wichtig, gute Bedingungen dafür zu schaffen.“ Das Problem der sinkenden Zahl von Geburtsstationen sieht wird inzwischen auch von der Politik aufgegriffen. Doch im Verhältnis zur Dringlichkeit tut sich wenig. So ist in Bayern nun eine Diskussionsrunde zum Thema geplant, zu der die Grünen im Landtag eingeladen haben. Und im Februar hatte die Vizechefin der Linken, Sabine Zimmermann, die Daten zur Zahl der Kreißsäle vom Statistischen Bundesamt angefordert und in einem Bericht ausgewertet. Sie kritisierte die Schließungen als „eine potenzielle Gesundheitsgefährdung für werdende Mütter“. Die Grünen haben in ihrer Initiative „Für eine gute Geburtshilfe“ Maßnahmen zur Verbesserung der Situation definiert. Doch was tut sich konkret? Die Hebamme versucht es auf den Punkt zu bringen: „Es könnte sein, dass die Regelungen zum Sicherstellungszugschlag für Kliniken nächstes oder übernächstes Jahr vom G-BA nochmals überarbeitet werden und dann auch die Geburtshilfe Berücksichtigung findet“, sagt Steppat. „Aber in der aktuellen Situation nützt das zunächst mal niemandem.“