Wartet man auf einen Therapieplatz, so ist man besser jung als alt, besser Mann als Frau und in seinen Geschlechtsrollenvorstellungen besser liberal als traditionell. Dann hat man es laut einer aktuellen Studie jedenfalls leichter, die Wartezeit zu überbrücken.
Wenigstens wird's nur bei wenigen schlimmer: Bei 48% von 106 Patienten, die in der aktuellen Studie auf einen Psychotherapieplatz warteten, veränderten sich die subjektiven Beschwerden in der Wartezeit nicht. Bei etwa 23% der Patienten verschlechterten sich die Symptome, bei den übrigen 29% verbesserten sie sich.
Dies ist ein Teilergebnis der Studie von Thomas Frank Huckert und seinen Kollegen. Die Autoren untersuchten die Symptombelastung von Patienten einer Hochschulambulanz, die sich zu einem psychotherapeutischen Erstgespräch angemeldet hatten. Sie wollten herausfinden, wie sich die Beschwerden zwischen Anmeldung und dem Termin des Erstgespräches veränderten.
Viel Geduld ist gefragt
Wer sich zu einer Psychotherapie anmeldet, der ist meistens schon einen weiten Weg gegangen –häufig beginnt mit der Anmeldung für viele eine weitere Tortur: die Wartezeit auf einen Therapieplatz. Die mittlere Wartezeit beträgt in Deutschland zwischen 2,5 und 4 Monaten. Das ist für viele ein psychischer Kraftakt, auch, wenn sich allein durch die Anmeldung schon viel verändert. Die Anmeldung zur Psychotherapie ist ein Eingeständnis vor sich selbst, dass man Hilfe braucht. Das bedeutet auch, dass der Patient bisherige Abwehrmechanismen teilweise aufgegeben hat. Dies kann ein erster Schritt hin zu einem neuen Umgang mit den eigenen Bedürfnissen sein. Außerdem schöpfen die Patienten mit der Anmeldung zur Psychotherapie oft neue Hoffnung. Die Autoren gingen daher davon aus, dass sich die Symptombelastung in der Wartezeit abschwächen würde.
Innerhalb eines Jahres meldeten sich in der Hochschulambulanz 282 Patienten an. Mit der schriftlichen Bestätigung der Anmeldung erhielten die Patienten eine Fragebogenbatterie. Nachdem die Patienten die Fragebögen zurückgeschickt hatten, wurden sie auf eine Warteliste gesetzt. Die Wartezeit bis zum probatorischen Erstgespräch betrug hier 6,2 Monate (Standardabweichung [SD] = 2,31 Monate).
Nur ein Drittel kam nach der Wartezeit zum Erstgespräch
Am probatorischen Erstgespräch nahmen 106 Patienten teil – also 38% von 282 Patienten, die sich ursprünglich angemeldet hatten. Zu diesem Erstgespräch erhielten die Patienten erneut eine Fragebogenbatterie, die sie eine Woche später zum Zweit-Gespräch mitbringen sollten. Die Autoren werteten die beiden Fragebogenbatterien aus und verglichen den Zustand der Patienten zur Anmeldezeit mit demjenigen zum Zeitpunkt des Erstgesprächs. Sie räumen ein, dass dieses Vorgehen möglicherweise das Studienergebnis verzerrt, da sich die Patienten häufig in einem psychotherapeutischen Erstgespräch entlastet fühlten. So spiegelt das Ergebnis nicht direkt den Zustand in der Wartezeit wider.
Die Studiengruppe bestand aus 65 Frauen und 41 Männern im Alter von 18–61 Jahren (Durchschnittsalter: 37,1 Jahre; SD = 11,31 Jahre). Erwerbstätig waren 65%, von 5% gab es keine Antworten und 30% der Patienten waren nicht erwerbstätig (hiervon waren 16% Studenten). 43% der Patienten wurden zuvor bereits von einem Neurologen, Psychiater, oder einem Psychotherapeuten ambulant oder fachklinisch behandelt. Die meisten Patienten litten gemäß ICD-10 an affektiven Störungen (35%), an Angststörungen (21%) oder an Anpassungsstörungen (13%). Von Essstörungen waren 5% betroffen, von Belastungsstörungen 4% und von somatoformen Störungen 3%. Bei 31% der Patienten wurde eine Zweitdiagnose gestellt. 15% erhielten aus verschiedenen Gründen keine Diagnose.
Symptomverbesserung innerhalb einer hohen Symptombelastung
Zur Messung der Symptombelastung verwendeten die Autoren unter anderem das "Brief Symptom Inventory" (BSI). Mit dem "Veränderungsfragebogen zum Entspannungserleben und Wohlbefinden – Psychotherapie" (VFE-PT) wurden Symptomveränderungen erfasst. Hier kam es zu unterschiedlichen Ergebnissen: In den BSI-Skalen zeigte sich eine signifikante Symptomabnahme zwischen den Zeitpunkten "Anmeldung" und "Erstgespräch". Aber: Bei der Abnahme der Symptome handelt es sich lediglich um eine relative Symptomverbesserung. Auch zum Zeitpunkt des Erstgesprächs litten die Patienten deutlich, denn es bestanden immer noch Symptome von Krankheitswert.
Anhand des Kennwerts "GSI" (Global Symptom Impairment, grundlegende psychische Belastung) als Teil des BSI kamen die Autoren zu diesen Ergebnissen: Bei 68% der Patienten blieb die Symptombelastung gleich. Bei 29% der Patienten haben die Symptome in einem klinisch bedeutsamen Maße abgenommen, bei 4% haben sie zugenommen. Die Messung des direkten Veränderungserlebens der Patienten (VFE-PT) zeigt ähnliche Relationen: 48% der Patient erlebten subjektiv eine gleichbleibende Symptombelastung, 29% stellten eine Verbesserung fest und 23% eine Verschlechterung.
Soziales Vertrauen hilft
Die Autoren fanden einige Faktoren, die es möglicherweise erlauben, vorherzusagen, wie sich Patienten in der Wartezeit auf einen Psychotherapieplatz wahrscheinlich fühlen werden. Je älter die Patienten, je geringer ihr soziales Vertrauen und je rigider ihre Vorstellungen zu den Geschlechterrollen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Symptome in der Wartezeit nicht verbessern. Interessanterweise erhöht auch ein ausgeprägtes positives Selbstkonzept die Gefahr, dass sich die Symptome in der Wartezeit verschlechtern. Dies könnte damit zusammenhängen, dass diese Patienten rigide an dysfunktionalen, eigenen Problemlösestrategien festhielten, so die Autoren. Insgesamt ging es den Männern in der Wartezeit besser als den Frauen, was die Autoren auf ein mögliches aktiveres Bewältigungsverhalten der Männer zurückführen.
Langes Warten – was kann man tun?
Lange Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz lassen viele Patienten verzweifeln. Die Bundespsychotherapeutenkammer fordert, die Wartezeiten auf höchstens drei Wochen zu kürzen. In ländlichen Regionen warten die Patienten deutlich länger auf einen Psychotherapieplatz als in städtischen Gebieten. Die Bundespsychotherapeutenkammer hat in Zusammenarbeit mit der Datenjournalistin Judith Pulg die Wartezeiten-Situation für das Jahr 2011 aufgeschlüsselt: Spitzenreiter ist die Stadt Bottrop mit einer Wartezeit von 45 Wochen.
Zwar können sich psychische Symptome in der Wartezeit manchmal verbessern – beispielsweise zeigt eine amerikanische Studie mit 111 leicht depressiven Patienten, dass sich bei 9–13% der Patienten die Symptome innerhalb von vier Wochen zurückbildeten (Hegel et al. 2006). In der Regel aber leiden die Patienten sehr – in vielen Internetforen geht es um die Frage: "Wie kann ich die Wartezeit überstehen?"
Tipps für die Wartezeit
Manchmal können kleine Schritte helfen, z.B. haben Selbsthilfegruppen oder Beratungsstellen mitunter weniger lange Wartezeiten, sodass einige Patienten bei diesen Anlaufstellen Halt finden, bis die Therapie beginnt. Auch kann der Versuch, einen Psychotherapieplatz in der Nachbarstadt zu finden, gelegentlich schneller zum Ziel führen. Zum "Durchhangeln" in der Wartezeit ist für manche Patienten auch der Service der Telefonseelsorge hilfreich. Sie ist 24 Stunden erreichbar. Patienten, die eine tiefenpsychologische oder psychoanalytische Therapie machen möchten, können sich auch an Ausbildungsinstitute wenden.
Hier erhalten sie oft schneller einen Platz bei einem Arzt oder Psychologen in Ausbildung zum tiefenpsychologischen Psychotherapeuten oder Psychoanalytiker. Auch kann es hilfreich sein, aktiv freudige Erlebnisse aufzusuchen. Passives Rückzugsverhalten verschlechtert anscheinend den Zustand (Hegel et al. 2006).