Neurologie, Humangenetik, Ethik der Medizin – Morbus Huntington spielt in unterschiedlichen Fächern des Medizinstudiums eine bedeutende Rolle. Aber warum eigentlich? Grund genug, diesen medizinischen "Dauerbrenner" genauer unter die Lupe zu nehmen.
Die wichtigsten Fakten zum Krankheitsbild Morbus Huntington hat vermutlich jeder Medizinstudent schon einmal auswendig gelernt. Und das mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht nur einmal. Kein Wunder, denn diese neurodegenerative Erkrankung mit autosomal-dominantem Erbgang dient in verschiedenen Fächern als lehrreiche Beispielerkrankung für unverzichtbare Lerninhalte. "Nachdem ich sämtliche Details bereits zweimal für Prüfungen gelernt habe, kann ich den Stoff über Chorea Huntington schon im Schlaf. Und das, obwohl die Krankheit im Vergleich zu Herzinfarkt und anderen Volkskrankheiten super selten ist", klagt Sofie aus dem 11. Semester.
Und ein bisschen hat sie natürlich auch Recht. Gleichzeitig aber auch Unrecht. Denn die Faszination von Morbus Huntington liegt eindeutig in deren vielseitiger Bedeutung für unterschiedliche medizinische Disziplinen. Zwar ist die Krankheit insgesamt deutlich seltener als Herzinfarkt und Co., liest man aber in Lehrbüchern die ersten Fakten nach, stößt man mit jeder Zeile auf interessante Infos mit Aha-Effekt.
Doch zuerst einmal die wichtigsten Basics zu Chorea Huntington:
Hier wird es ganz schnell auch richtig interessant. Denn Bewegungsstörungen treten in fortgeschrittenen Krankheitsstadien besonders prägnant in Erscheinung. So erinnert sich auch Johann, der bald sein Hammerexamen schreibt, noch sehr genau an eine Patientenvorstellung im Neurologie-Unterricht: "Der 48-jährige Patient wirkte vom Reden und Denken her völlig normal. Aber an seinen anfallsartigen und schleudernden Bewegungen und ständigem Grimassieren konnten wir das Krankheitsbild sehr schnell diagnostizieren."
Probleme im sozialen Kontakt
Bevor die Patienten allerdings durch diese sogenannten choreatiformen pathologischen Bewegungen auffällig werden, entwickeln sich zumeist psychische Auffälligkeiten wie schwere Depressionen mit ernst zu nehmenden Suizidgedanken. Darüberhinaus können Patienten mit Morbus Huntington auch von paranoiden Psychosen und extremen Veränderungen der Primärpersönlichkeit betroffen sein. Die Betroffenen werden beispielsweise grundlos aggressiv oder können Triebe und Impulse nicht mehr unterdrücken, sodass sich vielfältige Probleme im sozialen Kontakt wie im Alltag und Berufsleben ergeben. In Hinblick auf die charakteristischen Bewegungsstörungen gibt bereits der Krankheitsname einen entscheidenden Hinweis. So leitet sich das Wort chorea aus dem Griechischen ab und kann im Deutschen mit dem Begriff Tanz übersetzt werden. Der zweite Teil des Namens geht auf den amerikanischen Arzt George Huntington zurück, der das Krankheitsbild Ende des 19. Jahrhunderts erstmal detailliert beschrieben hatte.
Und obgleich heutige Ärzte dem guten alten Huntington eine Menge an Krankheitswissen voraus haben, hat sich eine bittere Tatsache seit dessen detaillierter Erstbeschreibung nicht geändert: Chorea Huntington ist nicht heilbar, chronisch fortschreitend und lässt sich nur in geringem Umfang symptomatisch behandeln. Nach dem Ausbruch im mittleren Erwachsenalter bleiben den Betroffenen meist 12 bis 15 Jahre, bis sie - in einem Drittel der Fälle - an einer Aspirationspneumonie in Folge von Schluckstörungen schließlich versterben. "Es ist wirklich tragisch, dass man trotz Forschung und Fortschritt den schwer betroffenen Patienten und ihren Familien nicht wirklich helfen kann", fasst Johann das bestehende Dilemma zusammen.
Molekulargenetik par excellence
Dass Chorea Huntington - neben der Neurologie - aufgrund der Bewegungsstörungen auch aus humangenetischer Sicht besonders interessant werden kann, liegt ganz klar an ihren pathophysiologischen Hintergründen. So handelt es sich um eine Erbkrankheit, die auf molekulargenetischer Ebene bereits gut erforscht und beschrieben werden konnte. Der Teufel steckt wie immer im Detail – genauer gesagt auf Chromosom 4 im kodierenden Bereich des sogenannten Huntingtin-Gens. Die Polyglutamin–Sequenz (CAG)n liegt bei Betroffenen in viel zu hoher Zahl ab und je nach Anzahl der Wiederholungen sind sie auf symptomatischer Ebene entweder schwer oder gar nicht betroffen.
Da es sich um einen autosomal-dominanten Erbgang handelt, spielt die Familienanamnese natürlich eine wichtige Rolle. Denn das kranke Huntingtin-Gen wird von einem Erkrankten in der Hälfte aller Fälle an die direkten Nachkommen weitergegeben. Leidet beispielsweise der Vater an Chorea Huntington, besteht auch bei dem Sohn eine 50%ige-Wahrscheinlichkeit, dass auch dieser später die entsprechenden Symptome entwickelt. Die Familien wenden sich daher oftmals an Humangenetiker und möchten via Gendiagnostik ermitteln, ob die Nachkommen später einmal unter der schweren und nicht heilbaren Krankheit leiden werden. Und genau an diesem Punkt kommt bereits das dritte Medizinische Fachgebiet ins Spiel, die medizinische Ethik.
Eine Frage der Ethik
Bevor der Humangenetiker eine Gewebeprobe entnimmt und das Huntingtin-Gen genauer untersuchen kann, ist eine umfassende Beratung geradezu obligatorisch. Da Chorea Huntington nicht heilbar ist, stellt sich in erster Linie die Frage nach dem Nutzen des Wissens, in einigen Jahren schwer und unheilbar zu erkranken. Schlimmstenfalls kann ein positives Ergebnis sogar sehr schädlich für den betroffenen Patienten sein, da die Versicherungssumme unter Umständen in Schwindel erregende Höhen steigen kann. Daher müssen die Indexpatienten auch mindestens volljährig sein und ihre ausdrückliche Zustimmung geben.
Das Krankheitsbild des Morbus Huntington macht in exemplarischer Weise deutlich, dass es in der Humanmedizin häufig notwendig ist, dass viele Fachgebiete an einem Strang ziehen und dass jedes Krankheitsbild - je nach Betrachtungswinkel - viele interessante Fragen aufwerfen kann. Wenn Ihr zum x-ten Male die Symptome einer bestimmten Krankheit büffelt, solltet Ihr nicht stöhnen, sondern mit gezielten und fachspezifischen Fragen im Hinterkopf Euren Horizont erweitern.