Das Narkosemedikament Ketamin könnte Patienten mit schweren Hirnschädigungen zukünftig vor weiteren Folgeschäden schützen. Es reduziert elektrische Entladungswellen im Gehirn.
Nach Hirnblutungen, schwerem Schlaganfall oder Schädel-Hirn-Traumen sind auch angrenzende, nicht direkt betroffene Hirnareale gefährdet. Ausgehend von der geschädigten Region überziehen elektrische Entladungswellen, so genannte "Spreading Depolarizations" oder Streudepolarisierungen, das Gehirn und können zum Absterben der Nervenzellen führen. Eine Studie zeigt nun, dass das gängige Narkosemittel Ketamin das Auftreten der Entladungswellen drastisch verringert und damit nachträgliche Schädigungen des Gehirns verhindert werden. Elektrische Ladungswellen als Nachwirkung „Manchmal kommen Patienten in relativ gutem Zustand in die Klinik, sind wach und ansprechbar, doch nach einigen Tagen verschlechtert sich der Zustand. Das ist die Phase, in der das Gehirn durch "Spreading Depolarisations" weiteren Schaden nimmt“, erklärt Dr. Daniel Hertle von der neurochirurgischen Universitätsklinik Heidelberg und Erstautor der Veröffentlichung, die in der Zeitschrift Brain erschienen ist. Die unkontrollierten elektrischen Entladungswellen geschehen etwa zwischen dem dritten und dem 12. Tag nach der Hirnverletzung. Das Phänomen wurde bei etwa 60 Prozent der Patienten beobachtet. „Allerdings erfolgt die Messung im Elektrokortikogramm immer nur auf circa einem Viertel der Gehirnoberfläche. Möglicherweise sehen wir bei einem Teil der Patienten die "Spreading Depolarisations" nicht, weil sie an anderer Stelle auftreten“, gibt Dr. Hertele zu bedenken. Patienten, bei denen die elektrischen Entladungswellen beobachtet werden, haben ein deutlich schlechteres Outcome als Patienten, bei denen das Phänomen nicht auftritt. Zusammenbruch der Ionengradienten Streudepolarisationen sind plötzliche, extreme Depolarisationen von Nervenzellen. Das Ionenkonzentrationsgefälle zwischen Zellinnen- und –außenraum bricht vollständig zusammen und der Membranwiderstand nimmt ab. Eine erneute Erregung der Nervenzelle ist somit nicht möglich; die Ionengradienten müssen durch die Natrium-Kalium-Pumpe erst wieder hergestellt werden. Je häufiger solche Wellen kompletter Entladung auftreten, desto länger brauchen die Zellen, um sich zu erholen. Zusätzlich führt die geänderte Osmolalität dazu, dass Wasser in die Nervenzelle einströmt; es kommt zum zytotoxischen Ödem. Im Mikroskop ist es durch die Deformierung der Dendriten und die Ballonform des Zellkörpers zu erkennen. Wird ein kritischer Zeitpunkt überschritten, führen diese Veränderungen zum Absterben der Nervenzellen. Hintergründe unklar Entdeckt wurde das Phänomen im Tiermodell bereits im Jahre 1944 von dem Brasilianer Aristides Leão. Dennoch finden die "Spreading Depolarisations" erst jetzt Eingang in die klinische Neurologie und Neurochirurgie. Die Gründe, warum Streudepolarisationen auftreten sind noch immer weitgehend unklar. Während im Zentrum der Depolarisationswelle das Gehirn zusätzlichen Schaden erleidet, könnten noch gesunde Hirnareale in der Peripherie von der sich ausbreitenden Welle vor einer drohenden Gefahr gewarnt werden. Ein solcher Ablauf wurde beispielsweise bei einer Unterversorgung mit Sauerstoff gezeigt. Bekommen Gehirnzellen zu wenig Sauerstoff, sterben sie nach etwa sieben Minuten ab. Haben die Zellen jedoch einige Stunden vorher für einen kürzeren Zeitraum zu wenig Sauerstoff erhalten, so überleben sie die wiederholte Noxe besser. Möglicherweise steckt aber auch eine lokale Krise dahinter, die in metabolischem Versagen mündet. Ketamin vermindert Entladungswellen um 70 Prozent „Wir gehen davon aus, dass sich schwere Folgeschäden wie lebenslange Behinderungen zum Teil verhindern ließen, wenn wir die Entladungswellen unterdrücken könnten“, sagt Privatdozent Oliver Sakowitz, Geschäftsführender Oberarzt der Neurochirurgischen Universitätsklinik Heidelberg. An der jetzt veröffentlichten Studie beteiligten sich neben Heidelberg die Charité in Berlin, das Universitätsklinikum in Köln, das King’s College London sowie amerikanisch Universitäten in Pittsburgh, Richmond und Cincinnati. Insgesamt wurden 115 Patienten nach Schädel-Hirn-Trauma, Hirnblutungen oder ischämischem Schlaganfall eingeschlossen. Retrospektiv wurde von den Zentren abgefragt, welche Medikation die Patienten erhalten hatten. Dabei zeigte sich, dass die Gabe von Ketamin zur Sedierung und Schmerzbehandlung nach der Operation bis etwa zum 12. Tag zu einer Reduktion der „Spreading Depolarisations“ um 70 Prozent führte. Die Behandlung mit anderen für diese Fälle typischen Medikamenten, z.B. Benzodiazepinen oder Opioiden, zeigte diese Wirkung nicht. NMDA-Rezeptor entscheidend? Ketamin bindet an den NMDA-Rezeptor und blockiert ihn. Der NMDA-Rezeptor scheint der Schlüssel zu sein, da die Hemmung anderer Rezeptoren (GABA- bzw. Opioidrezeptoren) keinen Einfluss auf die Häufigkeit und Dauer der Streudepolarisationen hat. Jetzt müsste nach den Vorstellungen der Mediziner eine Studie folgen, in der eine Patientengruppe mit nachweisebaren "Spreading Depolarisations" Ketamin erhält und eine andere Gruppe nicht. Sollte sich die Gabe von Ketamin im Vergleich zu anderen Medikamenten als günstig herausstellen, wäre das eine interessante Behandlungsoption. Das Schädel-Hirn-Trauma zählt in den westlichen Ländern zu den häufigsten Todesursachen bei Menschen unter 40 Jahren. Etwa ein Prozent der Fälle endet tödlich. Bei vielen anderen bleiben lebenslang Schädigungen des Gehirns, Einschränkungen oder Behinderungen zurück. Daher wäre es besonders für diese Zielgruppe interessant, unnötige Folgeschäden am Gehirn durch Streudepolarisationen abzuwenden. Symptome auch bei Migräne Interessanterweise treten "Spreading Depolarisations" auch bei Migränepatienten mit Aura auf. Vermutlich stellen sie sogar den Kernprozess dar: die Reihenfolge, in der Missempfindungen und Sinnesstörungen auftreten, deckt sich mit der Wanderung der Entladungswelle über die Hirnrinde. Bei der Mirgäneaura dauern die Entladungen nur kurz an. Vermutlich führen sie daher auch nicht zum Absterben von Nervenzellen, wie es bei den lang anhaltenden Entladungen im Fallen von Energiestoffwechselstörungen auftritt. Bei welchen weiteren Erkrankungen kortikale Streudepolarisationen eine Rolle spielen könnten, ist nicht bekannt.