Immer mehr Wissenschaftler versuchen mit nicht-invasiven Verfahren, die Leistungs- und Regenerationsfähigkeit des Gehirns zu verbessern. Ein Forscherteam konnte jetzt zeigen, dass die Stimulation mit Wechselstrom die Reaktionszeit von Testpersonen verkürzte.
Es klingt verlockend: Ohne operativen Eingriff die geistige Leistungsfähigkeit zu erhöhen oder Gehirnschäden zu reparieren. Einfach, indem man einen schwachen elektrischen Strom durch den Schädelknochen hindurch auf das Denkorgan wirken lässt. Schon in der Vergangenheit versuchten Forscher daher immer wieder mit dieser Methode chronische Schmerzen oder Depressionen schonend zu behandeln – allerdings ohne wissenschaftlich fundierten Nachweis der Wirksamkeit.
Erst in den letzten Jahren zeigte eine Vielzahl von klinischen Studien, dass die transkranielle Gleichstromstimulation tatsächlich die Bildung neuer Verschaltungen im Gehirn fördert. Einem Forscherteam der Universität Göttingen ist es nun gelungen, bei Testpersonen deren Reaktionszeit in einem Merktest mit Hilfe der transkraniellen Wechselstromstimulation (tACS) deutlich zu verringern. Wie die Wissenschaftler um Prof. Walter Paulus im Fachmagazin Current Biology mitteilten, eignet sich die Methode auch, um die Aktivität von räumlich getrennten Arealen der Hirnrinde zu synchronisieren.
Merktest mit Buchstaben
Paulus und seine Mitarbeiter untersuchten zuerst bei zehn gesunden Freiwilligen, welche Veränderungen in einem Elektroenzephalogramm (EEG) zu sehen waren, wenn diese den Merktest ohne den Einfluss einer Stimulation mit Wechselstrom absolvierten. Während der Versuchsreihe saßen die Probanden in einem Sessel und hielten dabei ihren linken und rechten Zeigefinger jeweils über eine Drucktaste. Auf ihren Köpfen waren mehrere Elektroden platziert, die die elektrische Aktivität der verschiedenen Gehirnareale maßen. Vor ihnen befand sich ein Bildschirm, auf dem in randomisierter Reihenfolge drei unterschiedliche Buchstaben für kurze Zeit eingeblendet wurden. Nach der Präsentation des dritten Buchstaben erschien auf dem Monitor eine Zahl, die die Position des Buchstaben anzeigte, an den sich die Teilnehmer erinnern sollten. Dann wurde einer der drei vorher verwendeten Buchstaben nochmals vorgestellt und die Probanden mussten so schnell wie möglich durch Drücken einer der beiden Tasten entscheiden, ob es der richtige Buchstabe war oder nicht. Ihre durchschnittliche Reaktionszeit betrug dafür rund eine halbe Sekunde.
Theta-Wellen verstärken sich in zwei Hirnarealen
Mit Hilfe des EEG konnte das Team um Paulus in zwei Arealen der Hirnrinde eine Steigerung der Aktivität beobachten: Sowohl im Bereich des linken Stirnhirns als auch des linken hinteren Schläfenlappens verstärkte sich während des Versuchs in einem Frequenzbereich die Amplitude der Schwingungen. Es handelte sich dabei um den Bereich der so genannten Theta-Wellen, die mit einer Frequenz von vier bis sieben Hertz schwingen. Unmittelbar nachdem den Probanden der letzte Testbuchstabe gezeigt wurde, setzte zudem eine Synchronisierung der beiden Schwingungen ein, bis diese sich in der gleichen Phase befanden. „Die Phasensynchronisierung der Theta-Wellen scheint wichtig zu sein, um die Aktivität des linken Stirnhirns und des linken Schläfenlappens miteinander zu verkoppeln“, erklärt Prof. Walter Paulus, der Direktor der Abteilung für Klinische Neurophysiologie der Universitätsmedizin Göttingen ist. „Von diesen beiden räumlich getrennten Hirnregionen weiß man schon länger, dass sie bei der Buchstabenerkennung stark aktiviert werden.“
Probanden nehmen Strom nicht bewusst wahr
Da die Forscher nun wussten, welcher Frequenzbereich bei der Merkaufgabe eine wichtige Rolle spielt, veränderten sie in einer zweiten Testreihe bei 18 weiteren gesunden Probanden im linken Stirnhirn und im linken Schläfenlappen die Hirnschwingungen von außen. Während des Merktests bekamen diese eine Behandlung mit Wechselstrom für jeweils rund zehn Minuten. Durch die Elektroden fließt der elektrische Strom mit einer Frequenz von sechs Hertz und einer Stromstärke von nur einem Milliampere, so dass die Probanden den Strom nicht bewusst wahrnehmen konnten.
Phasensynchron oder versetzt
Um die Theta-Wellen im Gehirn zu verstärken oder abzuschwächen, verbanden die Forscher die am Kopf der Probanden angebrachten Elektroden auf unterschiedliche Weise: „Entweder waren die Elektroden so verschaltet, dass die Schwingungen phasensynchron auf die beiden Hirnareale wirkten oder so, dass die Schwingungen in ihrer Phase um 180 Grad versetzt waren“, erklärt Paulus. Das hatte zur Folge, dass sich die durchschnittliche Reaktionszeit der Probanden in der ersten Versuchsanordnung von 470 auf 455 Millisekunden verringerte und in der zweiten Versuchsanordnung auf 495 Millisekunden erhöhte. Die Wirkung der transkraniellen Wechselstromstimulation, so Paulus, hänge also nicht von der Stromstärke ab, sondern von der Synchronisation mit den Theta-Wellen in den betroffenen Hirnarealen.
Aktiviert Wechselstrom ruhende Synapsen?
Wie die Wirkung zustande kommt, ist noch nicht geklärt. Experten vermuten, dass neuroplastische Veränderungen durch die Stimulation mit Wechselstrom angeregt werden. „Die synchronen Stromreize könnten zum Beispiel ruhende Synapsen aktivieren und dadurch eine bessere Vernetzung von verschiedenen Areale im Gehirn herbeiführen“, sagt Paulus. Andere Experten bestätigen diese Sichtweise: „Die Ergebnisse der Göttingen Arbeitsgruppe haben zum ersten Mal den kausalen Beweis erbracht, dass zwei Gehirnareale verstärkt miteinander kommunizieren, wenn man diese synchron mit Wechselstrom stimuliert“, findet Prof. Bernhard Sabel, Leiter des Instituts für medizinische Psychologie an der Universität Magdeburg. „Wahrscheinlich bleibt der Effekt der Behandlung mit Wechselstrom längere Zeit erhalten, da Tierexperimente gezeigt haben, dass eine synchrone Reizung die Plastizität der Synapsen dauerhaft stärkt.“
Potentielle Therapie für Schlaganfallpatienten
Paulus sieht eine zukünftige Anwendung der Wechselstromstimulation weniger bei gesunden Menschen, als beispielsweise in der Therapie von Patienten mit Hirnschädigungen oder -erkrankungen: Bei der Rehabilitation von Schlaganfall-Patienten, bei Morbus Alzheimer, der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder Schizophrenie sei ein Einsatz vorstellbar. „Die Therapie mit Wechselstrom könnte überlebende Hirnzellen trainieren, verloren gegangene Aufgaben zu übernehmen und dadurch die neurologischen Defizite der Patienten lindern“, so Paulus.
Eine ähnliche Technik, die transkranielle Gleichstromstimulation, wird bereits an Schlaganfall-Patienten erprobt. In diesen Studien steht vor allem die Verbesserung der Arm- und Handfunktion sowie der Sprachfähigkeit im Mittelpunkt der Untersuchungen. „Bei der Therapie mit Gleichstrom ist es wichtig, dass Stimulation und Training der von den neurologischen Ausfällen betroffenen Funktionen gleichzeitig stattfinden“, sagt Professorin Agnes Flöel, Leiterin einer Arbeitsgruppe am Centrum für Schlaganfallforschung der Charité in Berlin. „Einfach nur eine Stimulation ohne Training, das scheint nicht zu funktionieren.“