Mehr Früherkennung und Datenerfassung auf hohem Niveau, so lautet die Regierungsstrategie gegen Krebs. Doch gut gemeint ist bekanntlich das Gegenteil von gut – und Kollegen kritisieren etliche Schwachstellen im staatlichen Konzept.
Die Regierung hat ein neues Feindbild. Es geht nicht um Steuersünder, Terrorzellen oder religiöse Fundamentalisten. Vielmehr sagt Daniel Bahr (FDP) Krebs den Kampf an. Ende August beschlossen Kabinettsmitglieder ein umfangreiches Maßnahmenpaket gegen Tumorerkrankungen. Sicher ein Anfang, Grund zur Euphorie besteht jedoch kaum. Krebs steht an zweiter Stelle der bundesweiten Todesursachenstatistik - nur Herzerkrankungen fordern mehr Opfer. Bereits im Jahr 2008 ist deshalb mit breiter Unterstützung ein nationaler Krebsplan entstanden.
Von langer Hand geplant
Neben dem Bundesministerium für Gesundheit haben auch die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Tumorzentren, die Deutsche Krebsgesellschaft und die Deutsche Krebshilfe daran mitgearbeitet. Bahr: "Eine Krebsfrüherkennung, die dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand entspricht, und eine Qualitätssicherung der onkologischen Versorgung durch klinische Krebsregister sind unverzichtbar, um bei der Bekämpfung von Krebserkrankungen weitere Fortschritte zu erzielen."
Vorsorge stärken
Der erste Punkt: Vorsorgeuntersuchungen sollen künftig einen größeren Stellenwert bekommen. Wie beim Brustkrebs-Screening schon gang und gäbe, laden Kassen ihre Versicherten ab 2016 direkt ein, der Fokus liegt auf Darm- und Gebärmutterhalskrebs. Vom Erfolg sind nicht alle Politiker überzeugt. Auch bei der Mammographie wurde das hehre Ziel, 70 bis 80 Prozent aller Patientinnen zu motivieren, nicht erreicht. Und trotz gewaltiger Werbekampagnen nehmen nur wenige Prozent Leistungen zur Darmkrebsvorsorge in Anspruch.
Motivieren ist schwierig
Ob persönliche Briefchen die Quote verbessern, darf bezweifelt werden. Immerhin hat Daniel Bahr erkannt, dass Drohungen des Sozialgesetzbuchs völlig überflüssig sind. Momentan kommen nur chronisch Kranke, die an Vorsorgeprogrammen teilgenommen hatten, in den Genuss einer verringerten Belastungsgrenze bei Zuzahlungen. Dieser Passus ist bald Vergangenheit. Regierungskollege Jens Spahn, seines Zeichens gesundheitspolitischer Sprecher der Union, gab sich damit nicht zufrieden. Er forderte monetäre Anreize, konnte sich aber nicht durchsetzen.
Zentralisierung der Krebsregister
Daniel Bahr plant als zweites Standbein seiner Anti-Krebs-Strategie flächendeckend klinische Krebsregister. Nicht ohne Grund: Momentan gibt es hierzulande rund 50 derartige Datenbanken mit unterschiedlichem Fokus und verschiedener Technik. Über Artikel 74 des Grundgesetzes ("Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen…") will er die Länder ab 2018 verpflichten, mitzuarbeiten. Zwar werden momentan schon zahlreiche Parameter erfasst, deren Qualität schwankt jedoch in weitem Rahmen. Das machte auch Professor Dr. Matthias W. Beckmann vom Universitätsklinikum Erlangen deutlich: "Wie will man Volkskrankheiten erforschen, wenn man keine Datengrundlage hat?" Momentan sei die Erhebung "vielfältig, unkoordiniert und ineffektiv", jede Gruppierung im Gesundheitssystem verfolge ihre eigene Zielsetzung.
Viele Daten – wenig Qualität
Defizite bestehen auch bei Follow-ups: Ob sich beispielsweise Fernmetastasen oder Rezidive entwickelt haben, wird nur punktuell erfasst. Künftig sind die Länder selbst in der Pflicht. Sie sollen nicht nur die Zahl an Neuerkrankungen dokumentieren, sondern auch deren Verlauf respektive Behandlungserfolg oder eben -misserfolg, und zwar nach bundeseinheitlichen Standards. Davon erhoffen sich Versorgungsforscher Aufschluss, welche Therapie bei welcher Tumorerkrankung den größten Nutzen bringt. Bereits jetzt fordern Epidemiologen, Datensätze nicht vollständig zu anonymisieren. Ansonsten ließen sich beispielsweise Fragen zum vermeintlich höheren Krebsrisiko in der Nähe von Kernkraftwerken nicht klären.
Bund oder Land?
Uwe Deh, geschäftsführender Vorstand des AOK-Bundesverbandes, hätte von Haus aus lieber eine bundesweite Lösung. Regionale Register seien häufig viel zu kleinteilig mit zu niedrigen Fallzahlen und entsprechend häufigen Fehlerquellen. "Beispiel Gebärmutterhalskrebs: In einem regionalen Register mit 1,2 Millionen Menschen werden nur 85 Neuerkrankungen pro Jahr erfasst. Ein bundesweites Register würde 4.900 Frauen erfassen. Das sind Zahlen für belastbare Aussagen." Daniel Bahr setzt nicht ohne Hintergedanken auf die Länder. Für ihn ist Gesundheitsversorgung regional verankert. "Das Brandenburger Krebsregister erfüllt seit vielen Jahren die Anforderungen, die der Bund erst jetzt formuliert", ist sich Gesundheitsministerin Anita Tack von der Linken sicher. Ihre Datensammlung entstand aus dem nationalen Krebsregister der DDR und gilt bundesweit als Leuchtturmprojekt.
Das liebe Geld
Tack befürchtet jedoch, der geplante Obolus von 94 Euro pro Krebsneuerkennung plus einer Länderbeteiligung von zehn Prozent decke nicht alle laufenden Kosten. Vertreter des Bundesrats fordern deshalb eine Anhebung auf 119 Euro. Momentan zahlen Krankenkassen 170 Euro als Meldepauschale. Immerhin 90 Prozent der geschätzten 57 Millionen Euro werden sie pro Jahr für die Register einplanen müssen. Zehn Prozent gehen zu Lasten aller Länder – was der Bundesrat am 12. Oktober abgelehnt hat. Außerdem fordern Ländervertreter, die Kostensteigerung in Kliniken mit zu berücksichtigen. Ulrike Elsner, Vorstandsvorsitzende des Verbandes der Ersatzkassen, will private Versicherungen an der Finanzierung zu beteiligen: „Dies muss klar und deutlich im Gesetz festgeschrieben werden.“ Jenseits dieser Diskussion könnten Leistungsträger von Einsparungen im mehrstelligen Millionenbereich profitieren, sollten onkologische Behandlungskosten tatsächlich sinken.
Viele Untersuchungen, kaum Diagnosen
Erfahrungen zum Thema Früherkennung geben momentan ein reichlich verworrenes Bild wieder: Während die Mortalität und Morbidität bei Zervixkarzinomen tatsächlich gesunken ist und Patienten von der Darmkrebsvorsorge ebenfalls profitieren, sieht das Resümee bei anderen Tumorerkrankungen nicht so berauschend aus. Wie das Robert-Koch-Institut berichtet, führten entsprechende Programme bei Melanomen und Mammakarzinomen zumindest momentan nur zu einem Anstieg der Diagnosen ohne Effekt. Kaum ein Thema ist derart umstritten wie Brustkrebs-Screenings: Während italienische Kollegen publizierten, der Nutzen überwiege etwaigen Nachteilen durch falsch-positive Ergebnisse, stellte eine französische Arbeitsgruppe kurz zuvor jeglichen Benefit infrage.
Angesichts dieser Sachlage kritisieren Ärzte, es sei zu einfach, nur Mortalitätsdaten und Screenings in Korrelation zu setzen. Vielmehr sollten Therapien gründlich unter die Lupe genommen werden. Auch hier seien schließlich Abweichungen vom geltenden Standard möglich. Dr. Klaus Kraywinkel vom Berliner Robert Koch-Institut hält bei einigen Tumorerkrankungen wie Darm- oder Prostatakrebs ohnehin das Konzept einer risikoadaptierten Früherkennung für besser geeignet: Personen mit einem deutlich erhöhten Risiko sollten anhand bestimmter Indikatoren wie der familiären Krankheitsgeschichte erfasst werden, erst dann folgen Screenings.