Der Gemeinsame Bundesausschuss hat kürzlich seinen Beschluss zum Off-Label-Einsatz von Verapamil in der Prophylaxe des Cluster-Kopfschmerz vorgelegt. Einige Patientenvertreter laufen Sturm und warnen vor Todesfällen. Experten sehen die Sache entspannter. Zu Recht?
Die beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) angesiedelte Expertengruppe Off-Label gilt als eines der nachhaltigeren gesundheitspolitischen Vermächtnisse von Ex-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Im Jahr 2002 zunächst für die Onkologie eingerichtet, wurde diese Kommission im Jahr 2005 auf weitere Disziplinen ausgedehnt, darunter die Neurologie/Psychiatrie. Eine der Kernaufgaben der Expertengruppe ist die Beratung des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), der neben seinen zahlreichen anderen Aufgaben Schritt für Schritt Beschlüsse formuliert, die darauf abzielen, den Off-Label-Use von Medikamenten in Deutschland zu verringern. Die Expertengruppe bewertet dabei den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis. Und der G-BA erteilt dann auf dieser Basis eine quasi „gesundheitspolitische Zulassung“: Die Arzneimittel-Richtlinie wird angepasst und der behandelnde Arzt erhält mehr Rechtssicherheit. G-BA lässt Verapamil zu. Nur zehn Hersteller ziehen mit. So weit die Theorie. In der Praxis kommt es allerdings wie so oft auf die Details an. Aktuelles Beispiel ist der G-BA-Beschluss über Verapamil zur Prophylaxe des Cluster-Kopfschmerz vom 16. August 2012. Der noch nicht rechtskräftige, da noch nicht im Bundesanzeiger veröffentlichte Beschluss besagt, dass der Einsatz von Verapamil zur Prophylaxe des Cluster-Kopfschmerz bei erwachsenen Patienten künftig „legalisiert“ werden soll, wenn bestimmte Konstellationen erfüllt sind. Diese Rahmenbedingungen der dann nicht mehr Off-Label-Verordnung beruhen auf den Empfehlungen der BfArM-Expertengruppe Off-Label im Bereich Neurologie/Psychiatrie an den G-BA. Im Beschluss empfiehlt der G-BA konkret eine Tagesdosis von bis zu 360mg. Behandlungsziel ist eine 50prozentige Verringerung der Attackenfrequenz. Und abgebrochen werden sollte die Behandlung, wenn – abgesehen von den in der Fachinformation aufgeführten Gründen – das „Therapieziel einer 50prozentigen Reduktion der Attackenfrequenz nicht erreicht“ wird. Es gibt dann noch einige weitere Abschnitte zu Behandlungsdauer, Nebenwirkungen sowie eine Auflistung der erstattungsfähigen Präparate. Letzteres hängt damit zusammen, dass die Hersteller eine Anerkennung des bestimmungsgemäßen Gebrauchs unterzeichnen müssen, quasi eine Art Haftungserklärung. Das haben in diesem Fall nur zehn Hersteller getan. Proteste auf Patientenseite Von Seiten einiger, allerdings nicht aller Patientenvertreter hat dieser G-BA-Beschluss einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen. In einer auch im Internet einsehbaren Beschwerde an das Bundesgesundheitsministerium hat das Cluster-Kopfschmerz-Forum CK-Wissen, dem mehr als 500 registrierte Nutzer angehören, die Ablehnung des G-BA-Beschlusses auf 10 Seiten begründet. Auch an den G-BA ging eine sechsseitige Stellungnahme, die Formulierungsvorschläge für eine Neufassung der aus Patientensicht strittigen Formulierungen macht. Konkret geht es den Patientenvertretern unter anderem um die maximale Dosierung der prophylaktischen Therapie mit Verapamil. Hier gibt es im G-BA-Beschluss teils subtile, teils etwas weniger subtile Abweichungen von internationalen Empfehlungen, beispielsweise der WHO, aber auch von den Empfehlungen der BfArM-Expertengruppe Off-Label. So listet die WHO in ihren Kopfschmerz-Empfehlungen aus dem Jahr 2007 im Kapitel Prophylaxe des Cluster-Kopfschmerz (Seite S19) Verapamil in einer Dosierung von 240 bis 960mg pro Tag auf, allerdings mit dem Zusatz, dass das potenziell toxisch ist beziehungsweise ein EKG-Monitoring erfordert. Die Expertengruppe des BfArM empfiehlt dem G-BA wörtlich „eine Monotherapie mit einer anfänglichen Tagesdosis von 120mg (…), die bis 480mg gesteigert werden kann.“ Dosierungen bis 480mg gelten als wissenschaftlich ausreichend evaluiert. Darüber hinaus wird es datenmäßig dünn. Die zweite Passage des G-BA-Beschlusses, die von den Patientenvertretern abgelehnt wird, ist das oben genannte Abbruchkriterium. Auch hier gibt es eine Abweichung von der Empfehlung der BfArM-Expertengruppe. Die Expertengruppe nennt die 50prozentige Verringerung der Attackenfrequenz zwar als Behandlungsziel, formuliert bei den empfohlenen Abbruchkriterien aber großzügiger: Abgebrochen werden sollte demnach, „wenn in der globalen Einschätzung des Patienten sechs Wochen nach Erreichen der Enddosis keine Besserung eingetreten ist“. Mit anderen Worten: Auch wenn die Attackenfrequenz nicht um die Hälfte gesenkt wird, kann eine Weiterbehandlung laut BfArM-Expertengruppe, nicht aber laut G-BA gerechtfertigt sein. G-BA macht Sicherheitsbedenken geltend DocCheck hat beim G-BA nachgefragt, wie diese Abweichungen zu erklären sind. Bei der Dosierung werden Sicherheitsaspekte geltend gemacht und auf eine Passage in den Empfehlungen der BfArM-Expertengruppe verwiesen, in der es heißt, dass bei Cluster-Patienten aufgrund der zumeist eingesetzten höheren Dosierungen häufiger als bei anderen Verapamil-Patienten EKG-Veränderungen und Rhythmusstörungen auftreten. Bei den Abbruchkriterien vertritt der G-BA die Auffassung, dass sich der Abbruch der Behandlung „aus Gründen des Patientenschutzes (…) nicht allein auf der subjektiven Einschätzung des Patienten begründen sollte.“ Das im Zusammenhang mit der Maximaldosierung genannte Sicherheitsargument ist aus Verfahrenssicht insofern nicht ganz von der Hand zu weisen, als für das Off-Label-Verfahren eine schriftliche Zustimmung der Hersteller erforderlich ist. Im konkreten Fall wurde die auch bei der derzeitigen Formulierung schon von mehr als der Hälfte der Hersteller verweigert. Ob das bei der Formulierung des Beschlusses eine Rolle gespielt hat oder nicht, dazu möchte sich der G-BA nicht äußern. Dass der G-BA auch bei den Abbruchkriterien den Patientenschutz bemüht, kann man dagegen nur vorgeschoben nennen. Es gibt medizinische Abbruchkriterien der Verapamil-Therapie, die in der Fachinformation niedergelegt und von niemandem bestritten werden. Es gibt die abweichenden Empfehlungen der Expertengruppe. Damit sollte dem Patientenschutz eigentlich Genüge getan sein. Wird es Tote geben? Die Frage, mit der sich jetzt auch das Bundesgesundheitsministerium befassen muss, lautet: Wie relevant sind die Abweichungen zwischen G-BA-Beschluss und Expertenempfehlungen im Alltag? Patientenvertreter fürchten, dass es, so wörtlich, Tote geben könnte, wenn Ärzte verzweifelten Patienten unter Verweis auf den G-BA-Beschluss sagen, dass bei 360mg Verapamil pro Tag Schluss ist. Die Frage ist, ob die Ärzte das tun werden, und ob die Krankenkassen im Umkehrschluss bei höheren Dosierungen, bei denen sie Ärzten bisher keinen Ärger gemacht haben, auch künftig ein Auge zudrücke, G-BA-Beschluss hin oder her. Experten sehen die Gefahr einer Verschlechterung der Versorgung von Cluster-Patienten eher nicht. „Eine Verordnung von höheren Dosierungen wird durch den Beschluss nicht schwieriger. Bisher ist die Off-Label-Verschreibung ja auch unproblematisch gewesen. Mir ist kein einziger Fall von Regressandrohung oder anderen kritischen Nachfragen bei der Verordnung von Verapamil beim Cluster-Kopfschmerz bekannt“, betont Professor Dr. Stefan Evers von der Neurologie der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Auch das Ansprechkriterium einer 50prozentigen Attackenreduktion hält er für praktikabel: „Es soll ja nur eine Hilfestellung sein. Wenn der Cluster-Kopfschmerz nicht um mindestens 50% gesenkt wird, ist der therapeutische Effekt nicht befriedigend. Es sollte dann nach anderen Therapiemöglichkeiten gesucht werden.“ Naiver Optimismus? Evers ist von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) als Ansprechpartner für das Thema benannt worden. Er war nicht Mitglied der Expertengruppe des BfArM. Die DGN als Gesellschaft begrüßt den G-BA-Beschluss grundsätzlich, weil Verapamil damit bei Cluster-Patienten aus der Illegalität geholt wird. Die Frage ist, ob der Glaube daran, dass das, was bisher galt, auch nach dem G-BA-Beschluss noch gilt, nicht etwas naiv ist. Mit Verweis auf den Cluster-Beschluss des G-BA wollte DocCheck vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung wissen, inwieweit den einzelnen Krankenkassen denn nach so einem Beschluss noch Ermessensspielräume blieben. Die Antwort fiel relativ ernüchternd aus: G-BA-Beschlüsse hätten den Charakter untergesetzlicher Normen, so der Spitzenverband. Sie seien für Ärzte, Krankenkassen, deren Verbände und für die Versicherten verbindlich. Diese Verbindlichkeit sei „eindeutig“, so der Spitzenverband.
Möchten Sie, dass wir spezielle Ihr Thema recherchieren? Dann schicken Sie uns Ihre Themenvorschläge an: redaktion@doccheck.com