Bei Männern in den westlichen Ländern ist die Spermienkonzentration seit den 1970er Jahren um mehr als 50 Prozent zurückgegangen. Experten sehen keine Spermakrise, raten aber dazu, den Trend weiter zu untersuchen. Derzeit gibt es mehrere Erklärungsansätze.
Die Konzentration von Spermien hat sich bei Männern aus Nordamerika, Europa, Australien und Neuseeland zwischen 1973 und 2011 um insgesamt 52,4 Prozent verringert. Im gleichen Zeitraum ist die Gesamtzahl an Spermien pro Erguss um 59,3 Prozent gesunken. Zu diesen Ergebnissen kommt Hagai Levine, Epidemiologe von der Hadassah-Hebrew University in Israel. Bei Männern aus Südamerika, Asien und Afrika fand er jedoch keine statistisch signifikanten, negativen Trends. Weitere Parameter, etwa die Beweglichkeit von Spermien, konnte Levine nicht analysieren.
Für seinen systematischen Review mit Metaanalyse fand Levine 185 Studien aus den Jahren 1973 bis 2011 mit insgesamt 42.935 Männern. In allen Fällen lagen Samenproben zur Untersuchung vor. Für Männer aus Nordamerika, Europa, Australien und Neuseeland lagen dem Forscher gute Daten vor. Ob der Unterschied der Spermienkonzentration zwischen Männern aus diesen Ländern im Vergleich zu Männern aus Südamerika, Asien und Afrika tatsächlich so groß ist, lässt sich aus den vorhandenen Studien nicht ableiten, denn Levine verweist auf „schlechte Daten“ bei Männern außerhalb westlicher Länder. Auch wenn dadurch ein Vergleich nicht möglich ist, lohnt es sich, die Daten aus den westlichen Ländern genauer zu betrachten und nach Erklärungen zu suchen. Spermienkonzentration (a) beziehungsweise Gesamtzahl (b) bei Männern aus westlichen Ländern und aus anderen Regionen. In der Gruppe "Fertile" lagen Informationen zur Fruchtbarkeit vor - etwa durch eine frühere Vaterschaft. Screenshot DocCheck / © Hagai Levine et al., Hum Reprod Update
Hagai Levine © Hadassah Medical Center Mögliche Gründe seines Trends hat Levine nicht untersucht. Dennoch berichtet er von Hypothesen: „Aus früheren Studien wissen wir, dass die Exposition gegenüber endokrinen Disruptoren in utero die Entwicklung des männlichen Fortpflanzungssystems und das Fertilitätspotenzial schädigen kann. Später im Leben kommen Chemikalien wie Pestizide oder Tabakrauch, aber auch starkes Übergewicht, noch hinzu.“ Falls sich die regionalen Unterschiede doch durch bessere Studien bestätigen lassen, sieht er die unterschiedliche Exposition gegenüber Substanzen, allen voran Pestiziden, als Erklärung. Gleichzeitig rät er, den Trend ernst zu nehmen: „Unsere Daten zeigen, dass der Anteil der Männer unterhalb der Schwelle zur Subfertilität oder Infertilität steigt.“ Klare Folgen für das Bevölkerungswachstum werde es erst geben, falls ein erheblicher Teil der Bevölkerung eine sehr niedrige Fruchtbarkeit aufweise. Bei Experten ruft diese Beurteilung ein geteiltes Echo hervor.
Sabine Kliesch © Universitätsklinikum Münster „Es besteht meines Erachtens kein Grund, beunruhigt zu sein“, kommentiert Professor Dr. Sabine Kliesch vom Centrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie, Universitätsklinikum Münster, die Studie. „Die gezeigten Veränderungen befinden sich alle in einem hoch-normalen Bereich, das heißt eine Einschränkung der Zeugungsfähigkeit ist aufgrund der statistisch beobachteten Veränderungen zunächst nicht zu erwarten.“ Sie verweist auf bekannte Schwankungen bei ein und demselben Patienten innerhalb des Normbereichs. Noch entscheidender als die Gesamtzahl an Spermien sei die Zahl beziehungsweise die Konzentration an vorwärts-beweglichen Spermien. Nur diese würden Eizellen überhaupt erreichen. „Und hierzu gibt es in dieser Analyse keine Aussage“, gibt Kliesch zu bedenken. Welche Rolle Chemikalien spielen, kann sie nicht sagen: „Möglicherweise liegt hier eine Assoziation vor, aber ob es eine Kausalität gibt, wäre zu prüfen.“ Bekannt sei eher, dass Substanzen die Funktion, aber weniger die Zahl an Spermien veränderten. „Die Bandbreite ist groß und reicht von Medikamenten-Einnahmen, externen Noxen wie zum Beispiel das Rauchen, über Begleiterkrankungen bis hin zu veränderten Analysemethoden.“
Stefan Schlatt © UKM-Fotozentrale Professor Stefan Schlatt, Direktor des Centrums für Reproduktionsmedizin in Münster, gibt ebenfalls Entwarnung. Die Weltgesundheitsorganisation WHO nennt als Referenzwerte für männliche Unfruchtbarkeit weniger als 39 Millionen Spermien pro Ejakulat oder weniger als 15 Millionen Spermien pro Milliliter. „Also rutscht mit der Zeit eine kleine Gruppe von Männern unter diese Zahl, aber das ist nicht bedenklich“, sagt Schlatt. „Das eigentliche Problem für Fruchtbarkeit von Paaren ist das Alter – aber nicht das Alter des Mannes, sondern das der Frau.“ Ob es die häufig proklamierte Spermakrise gibt oder nicht gibt, kann er nicht sagen. „Diese Studie hat aber den Vorteil, dass sie klar zeigt: Es ist zumindest tatsächlich was dran an der Theorie, dass die Zahlen sinken. Inwiefern deswegen die Fruchtbarkeit von Männern sinkt, kann diese Studie nicht belegen.“ Zu den möglichen Gründen kann Schlatt nur spekulieren: „Das Handy in der Hosentasche, endokrine Disruptoren aus der Umwelt, die Acetylsalicylsäure im Schmerzmittel, ein anderer Hormon-Stoffwechsel wegen Übergewicht oder der Missbrauch von Hormonen für den Muskelaufbau: All das steht im Verdacht, Ursache für weniger Spermien zu sein.“ Er hält ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren für wahrscheinlich, außer beim Rauchen: „Das ist definitiv schlecht für die Spermienzahl; das ist wissenschaftlich gesichert.“ Levines Arbeit sollte also Ansporn sein, die These weiter zu prüfen und dann gegebenenfalls die Ursachen zu erforschen.