Für die meisten bedeutet das Medizinstudium: Verschulter Stundenplan und voller Kopf. Dabei noch über den Tellerrand hinausschauen? Für viele undenkbar. Wir haben Studenten getroffen, die das auf sich nehmen und seit vielen Semestern ein Doppelstudium absolvieren.
Wenn Bernhard Seidler, 20, über seinen Münchner Studentenalltag erzählen soll, schildert er einen kleinen Marathon. "Meist geht es um acht mit Vorlesungen in der Medizin los, um zehn werden dann die ersten Geisteswissenschaftler wach und nachmittags ist wieder Medizin angesagt." Dazwischen geht es essen und dann in die Bib. Als Bernhard sich nach dem Arbeitstag Zeit für ein Gespräch mit uns nimmt, ist die Sonne auf schon ein paar Stunden untergegangen. Er absolviert gerade zwei zwei Fach-Bachelors. Hauptfächer: Kunstgeschichte und Philosophie, Nebenfächer: Altphilologie und Archäologie. Zusätzlich zum Medizinstudium.
Da drängen sich für den durchschnittlichen Studenten natürlich mehrere W-Fragen auf. Warum? Wann? Und natürlich: Wie bitte? Bernhards Antworten liegen dann näher als gedacht: "Ein breiter Blick ist für einen Menschen, wie der Mediziner einer sein sollte, äußerst wichtig. Und mit dem Alter schwindet bestimmt der Eifer, sich zu bilden. Also besser jetzt als nie dort weiterstudieren, wo die Interessen liegen." Doch könnte er sich nicht einfach mit dem Wissen aus Feuilletons begnügen und zu Hause Fachzeitschriften lesen? Nein, findet Bernhard, denn: "Man wird in der Uni professionell an die Hand genommen. So fundiert wie dort, bekommt man sonst kaum Einblicke, es gibt zum Beispiel für die Geisteswissenschaften nicht überall Lehrbücher und vorgekautes Wissen wie in der Medizin."
Zu Semesterende ist Showtime
Für Bernhards Privatleben hat das Doppelstudium Vor- und Nachteile. "Klar, man braucht Zeit zum Studieren, aber ich bringe dadurch inzwischen viele Interessen mit. Das hat mein soziales Umfeld eher bereichert", erzählt er. Den Vorwurf des Strebers lässt er auf jeden Fall nicht gelten: "In den Medizin-Seminaren bin ich eher Durschnitt. Die zusätzlichen Studiengänge bringen es halt mit sich, nicht immer auf alles gut vorbereitet zu sein. Und das Semesterende ist mit 10 bis 15 Klausuren wirklich Showtime."
Bleibt die Frage, wie so viel Arbeit überhaupt zu bewerkstelligen ist. Bernhard empfiehlt ein geringes Schlafpensum und Unis mit großen Semester-Kohorten wie in München. Dort würden die gleichen Inhalte häufig an vielen verschiedenen Terminen angeboten, was das Tauschen von Veranstaltungen erleichtere und den Stundenplan flexibilisiere. Mit Beginn der Klinik sei die Anzahl der Doppelstudenten in München übrigens nochmals gestiegen – allerdings nur auf etwas mehr als eine Handvoll. Von einem echten Trend zu sprechen, fällt da schwer.
Unterschiedliche Voraussetzungen
Tatsächlich lohnt es sich für diejenigen, die grundsätzlich Interesse an einem Doppelstudium haben, schon vor Studienbeginn zu prüfen, was die Uni zulässt und was nicht. Einige Hochschulen sehen es nämlich weniger gerne, wenn Medizinstudenten zusätzlich Kapazitäten an anderen Fakultäten belegen. Andreas Zirkel vom Studierendensekretariat in Münster stellt klar, dass "die parallele Einschreibung für zulassungsbeschränkte Studiengänge nicht zugelassen wird." Da in Münster fast alle Fächer mit einem Numerus Clausus belegt sind, tendiert die Zahl der Doppelstudenten dort gegen null. Für Bernhard war das Doppelstudium in München dagegen Verhandlungssache: Ein Gespräch mit den jeweiligen Dekanen habe gereicht, um die Motivation darzulegen und eine Genehmigung zu bekommen.
Ähnliches berichtet auch Tim Färber*, 26, aus Hamburg. Er hat zunächst Psychologie studiert und sich dann parallel ins Medizinstudium eingeklinkt. Er habe sich normal bei der ZVS beworben, für die Zulassung musste aber parallel ein Antrag abgegeben werden, der persönliche Gründe für den Mehraufwand beleuchtete. "Die finanziell belastende verlängerte Studienzeit und die Ergänzung zu meinem Forschungsgebiet "cognitive neuroscience" waren letztendlich eine ausreichende Begründung für die Uni Hamburg."
Die Strukturen durchblickt
Die Semesterferien seien natürlich ständig voll gewesen mit Pflegepraktika und zusätzlicher Lernerei. Zwischendurch habe er auch mal überlegt, zu schmeißen. Aber die Fächer ergänzten sich im Laufe der Zeit. Eines war eher theoretisch, das andere praktisch orientiert, sagt er rückblickend. "Außerdem hat man sich und andere im Psychologiestudium schon mal selbst analysiert, das hilft im Patientenumgang." Und: "Beim zweiten Studienbeginn wusste ich, was für ein Lerntyp ich war. Ich hatte die universitären Strukturen schon durchblickt und mich weniger verrückt gemacht. In dem Punkt war ich den echten Ersties voraus."
Tim ist mittlerweile Diplom-Psychologe und im fünften Semester Medizinstudent. Er empfiehlt ein Doppelstudium vor allem für diejenigen, die aus Diplomstudiengängen kommen oder an Unis eingeschrieben sind, die solche noch anbieten. "Mit dem Bachelor wird es schwieriger, allen Anwesenheitspflichten nachzukommen."
Als Rentner den Kopf frei
Für alle, die diese Voraussetzungen nicht mitbringen, kann ein Fernstudium eine echte Alternative bieten. An Deutschlands größter Hochschule, der FernUniversität Hagen, sind unter den knapp 81.000 Studenten in diesem Jahr 220 Medizinstudenten als Zweithörer eingeschrieben. Diese bekommen ihre Materialien per Post zugesandt und hören in ihrer Freizeit zu Hause Podcasts und Livestreams aus der Vorlesung. Unter den beliebtesten Zweitfächern der Mediziner rangieren hier Psychologie sowie Wirtschafts- und Kulturwissenschaften auf den Plätzen eins bis drei.
Einfacher wird ein Doppelstudium dadurch nicht. Und Bernhard und Tim sind Ausnahmen, nicht die Regel. Wer sich nicht mit ihnen messen will, muss sich nicht schämen. Eines aber sei ihrer Entscheidung auf jeden Fall zu Gute gehalten: Wer jetzt schon loslegt, kann sich in ferner Zukunft das Seniorenstudium sparen und hat als Rentner endlich mal den Kopf frei.
*Name des Interviewten auf dessen Wunsch hin geändert.