Während Ärzte in zahlreichen Ländern gut vernetzt sind, gibt die vermeintliche Innovationsschmiede Deutschland kein gutes Bild ab. An Ideen fehlt es nicht, die Umsetzung sieht jedoch düster aus. Wenn Politiker nicht mehr weiter wissen, bleibt – wie so oft – nur eine Planungsstudie als Ausweg.
Eine unendliche Geschichte: Der Rollout elektronischer Gesundheitskarten läuft mittlerweile nach Plan. Allerdings leistet das umstrittene Stück Plastik kaum mehr als sein Vorgänger, die Versichertenkarte. Gespeichert werden lediglich Stammdatensätze. Beim Thema eHealth kommen noch ganz andere Probleme mit hinzu. Zwar existieren in Deutschlands Praxen, Kliniken und Apotheken rund 400 innovative Projekte. Vielen dieser Systeme fehlen geeignete Schnittstellen nach außen. Die Folge: Kollegen erheben Daten zwar digital, geben sie aber nicht selten in analoger Form – als ausgedrucktes CT-Bild oder als Arztbrief – weiter.
Internationale Ohrfeige
Eine Studie von Accenture fiel für Deutschland nicht gerade schmeichelhaft aus. Die Unternehmensberater befragten 3.700 Ärzte und 160 Führungskräfte, wie intensiv IT im medizinischen Bereich Einzug gehalten hat. Alle Interviews gliederten sich in Aspekte wie interne Nutzung, Austausch von Informationen sowie Optimierung von Qualität und Wirtschaftlichkeit. Im Vergleich mit Australien, England, Frankreich, Kanada, Singapur, Spanien und den Vereinigten Staaten lag Deutschland bei der internen Nutzung zwar vorne, war jedoch hinsichtlich der Interaktion mit anderen Leistungserbringern weit abgeschlagen. Elektronische Labordaten, digitale Überweisungen oder der Austausch mit Kollegen über sichere E-Mails? Da gibt es etliche weiße Flecken auf der Innovationslandkarte. Zusätzlich bemängelten die Autoren, eHealth-Lösungen seien eher in der Administration als in klinischen Prozessen zu finden.
Frankreich zeigt den Weg
Neidvoll blicken Kollegen deshalb nach Frankreich. Themen, die bei uns noch kontrovers diskutiert werden, hat die „Grande Nation“ bereits erfolgreich umgesetzt. Das liegt möglicherweise an einer starken Zentralisierung im Vergleich zu föderalen Strukturen hier zu Lande. Zum System selbst: Patienten haben eine Gesundheitskarte ("Carte Vitale“), die auf Wunsch mit ihrer elektronischen Patientenakte (EPA) verknüpft ist. Um auf Daten zuzugreifen, benötigen Ärzte nach dem Zwei-Schlüssel-Prinzip neben ihrem Heilberufsausweis die jeweilige Patientenkarte. Sie speichern neue Behandlungsdaten aber nicht direkt auf einem Server, sondern exportieren vielmehr einzelne Informationen via Praxis- oder Kliniksoftware.
EPAs ersetzen also keine detaillierten Aufzeichnungen vor Ort, vielmehr soll die Vernetzung verschiedener Gesundheitsberufe optimiert werden. Dazu tragen Laborbefunde, Daten aus der Bildgebung oder Berichte bei. Patienten haben bei allen Prozessen ein Mitspracherecht. Sie können nicht nur der Übertragung widersprechen, sondern auch entscheiden, dass manche Informationen beispielsweise nur Ärzten zugänglich gemacht werden, nicht aber Pflegekräften oder Physiotherapeuten.
Österreich: die „e-card“ punktet
In der Alpenrepublik haben sich Ärzte und Apotheker schon früh Gedanken gemacht. Seit 2005 ist die "e-card“ zentraler Bestandteil ihrer Kranken-, Arbeitslosen-, Unfall- und Pensionsversicherung. Das Stück Plastik dient als Schlüssel zum Abrufen von Stammdatensätzen, nicht jedoch als Datenspeicher. An elektronischen Patientenakten scheiden sich auch hier die Geister. Im Gegensatz zur deutschen Strategie sollen Daten nicht auf einem Zentralrechner abgelegt werden. Vielmehr ist das Ziel, Unterlagen verschiedener Quellen zusammenzuführen. Betroffene fordern ein stärkeres Mitspracherecht, Kollegen sehen bei unvollständigen Unterlagen kaum einen Mehrwert.
„e-Medikationsdatenbank“ in Testphase
Besser sieht es schon in Sachen Medikationsmanagement aus. In Wien, Oberösterreich und Tirol testeten Ärzte gemeinsam mit Apothekern eine zentrale "e-Medikationsdatenbank“, um Interaktionen beziehungsweise Mehrfachverschreibungen zu erfassen. Auf Basis standardisierter Daten zeigte ein Ampelsystem mögliche Gefahren an. Im Mai evaluierten die Medizinische Universität Wien und die Private Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik und Technik (UMIT) das Pilotprojekt. Ihre Empfehlung: Das Thema e-Medikation soll unbedingt weiter verfolgt werden, allerdings erst "nach einem umfassenden Re-Design unter bestmöglicher Berücksichtigung aller im Evaluierungsbericht empfohlenen Maßnahmen“.
Schweiz: Viele Köche rühren im Brei
Die Eidgenossen setzen bei ihrer Infrastruktur auf dezentrale Lösungen – alle 26 Kantone sind im Rahmen des Projekts "eHealth Suisse“ gefordert. Für notwendige Abstimmungsprozesse sorgt ein spezieller Steuerungsausschuss. Bereits 2010 haben Gesundheitspolitiker eine Versichertenkarte eingeführt. Momentan laufen Anhörungen zum "e-Impfdossier“, zur Kommunikation zwischen verschiedenen Instanzen sowie zu technischen Fragestellungen. An einem Gesetzesentwurf für elektronische Patientendossiers wird ebenfalls gearbeitet, mit der Einführung rechnen Ärzte frühestens 2015.
Innovative Insellösungen
Deutschlands Ärzte waren in der Zwischenzeit nicht untätig: Im Ärztenetz Südbrandenburg entwickelten Kollegen in Eigenregie 2005 ein spezielles Praxisverwaltungssystem – der Handel bot damals keine geeignete Lösung an. Für angeschlossene Praxen bedeutet das oftmals, zweigleisig zu fahren: mit der etablierten Software und mit dem sogenannten CURANET. Dessen Herzstück sind elektronische Patientenakten. Alle Daten gelangen über Eingabemasken hoch standardisiert auf den Server: Laborparameter, Diagnosen (als ICD-10) oder Verordnungen (als Pharmazentralnummern). In puncto Zugriff gingen Programmierer noch einen Schritt weiter. Neben der ärztlichen Smartcard müssen Patienten über einen Fingerabdruckscanner ihre Akte freigeben. Im Gegensatz zu diesem serverzentrierten Modell arbeitet das Ärztliche Qualitätsnetz Solingen (Solimed) mit Peer-to-Peer-Lösungen, das sind Rechner-Rechner-Verbindungen. Ruft ein Arzt Patientendaten ab, erhält er Informationen aus allen angeschlossenen Praxen – die wiederum ständig online sein müssen und größere Summen in die Hardware stecken müssen.
Master of Desaster
Bei flächendeckenden Lösungen sieht es jedoch bescheiden aus. Eigentlich sollte es schon 2006 die elektronische Gesundheitskarte geben – bundesweit, zunächst im Basismodell, später mit Notfalldatensätzen und elektronischen Patientenakten. Mit seinem Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung hat die damalige Regierung eine entsprechende Basis im Sozialgesetzbuch geschaffen. Danach begannen die Probleme: Es gab politische Meinungsverschiedenheiten, Abstimmungsschwierigkeiten zwischen gematik-Gesellschaftern und Vorbehalte gegen die Technik an sich. Feldstudien fanden viel zu spät statt und offenbarten weitere Mängel, und viele Kollegen begannen, das Projekt abzulehnen.
Allerdings sind solche Probleme hier zu Lande mittlerweile die Regel, nicht die Ausnahme: Abgesehen von eHealth scheiterte der elektronische Entgeltnachweis (ELENA) an ähnlichen Schwierigkeiten, und das elektronische Mautsystem unter Federführung von Toll Collect brauchte knapp drei Jahre länger als geplant. Nun hat das Bundesministerium für Gesundheit eine Planungsstudie zur Interoperabilität in Auftrag gegeben. Das Thema ist Teil einer bundesweiten eHealth-Initiative mit Beteiligung von Spitzenorganen der Selbstverwaltung. Und so lautet der Plan: Im ersten Schritt soll die BearingPoint GmbH zusammen mit dem Fraunhofer Institut für offene Kommunikationssysteme (FOKUS) den Ist-Zustand analysieren und darauf aufbauend Verbesserungsvorschläge erarbeiten. Bis Juli 2013 rechnen Politiker mit Ergebnissen. Ob es ausreicht, jetzt mit einer Planungsstudie zur Interoperabilität Verbesserungsvorschläge zu erarbeiten, ist zu bezweifeln. Vielmehr fehlen Fachleute an entscheidenden Schnittstellen zwischen Politik und Praxis, um innovative Ideen auch erfolgreich umzusetzen. Ansonsten verliert Deutschland den internationalen Anschluss – bei eHealth, aber auch bei vielen anderen Prozessen.