Schmerzmittel in Tausender-Packs und Hormonpräparate in Form von Fruchtgummis: In den USA sind viele Medikamente frei in Drogerien verkäuflich. Ist das überregulierte System der Arzneimittelabgabe in Europa im Vergleich zu den Staaten noch zeitgemäß?
Die Abgabe von Medikamenten ist in Deutschland streng geregelt. Wer hierzulande ein wirksames Arzneimittel kaufen will, braucht dafür ein Rezept, oder muss zumindest eine Apotheke aufsuchen. Manch einer findet das übertrieben. Ist ein freierer Verkauf wie in den USA die zeitgemäßere Variante? Ich habe in den Regalen amerikanischer Drogerien gestöbert und mich im Selbstversuch dort beraten lassen. Das Sortiment der CVS-Pharmacy in Downtown Chicago erinnert auf den ersten Blick an eine deutsche Drogerie. Doch zwischen Keksen, Windeln, Shampoo und Sonnenbrillen stehen hier drei Regalreihen mit Dosen voller bunter Pillen. Fast wie Smarties sehen sie aus, es sind aber Medikamente, von denen viele in Deutschland nicht frei verkäuflich wären. Arzneimittel, für die man kein Rezept braucht, nennt man auch hier OTC, also Over-The-Counter-Präparate, was etwas verwirrend ist. Denn die Apothekenpflicht mit Verkauf nur über die Theke gibt es so nicht. Alles, wofür man kein Rezept benötigt, steht offen im Regal, OTC-Medikamente wie Nahrungsergänzungsmittel – allerdings würde vieles davon in der EU komplett anders eingestuft. Fruchtgummis mit Melatonin © Habich Der offene Zugang genau wie deren Aufmachung lässt viele Präparate zu Unrecht harmlos wirken. Sieht man sich etwa die Produkte der Firma Nature’s Bounty an, könnte man meinen, sämtliche Gesundheitsprobleme ließen sich mit Fruchtgummis lösen. Es gibt „Co Q-10 Gummies‟ für die „Herzgesundheit“, „Energy-Gummies“ mit grünem Tee, Kola-Nuss und Guarana. Und, unter der Verkaufsbezeichnung „Sleep Gummies“, Fruchtgummis mit Erdbeergeschmack, die 5 mg des Hormons Melatonin pro Dosis enthalten. Melatonin, natürlicherweise von der Zirbeldrüse gebildet, beeinflusst den Tag-Nacht-Rhythmus des Körpers. Präparate mit Melatonin sind wegen unklarer Langzeitwirkungen auf den Stoffwechsel in Deutschland verschreibungspflichtig. Die bekannten Nebenwirkungen sind zahlreich und reichen von Schwindel, Depressionen, Migräne und Albträumen bis zu Synkopen und Veränderungen des Blutbilds. Bei Kindern wird befürchtet, dass Melatonin sich auf die sexuelle Entwicklung auswirkt.
Auf der Rückseite der „Sleep Gummies“ werden diese als „Drug free Sleep Aid“ bezeichnet. Im Kleingedruckten steht, dass das Produkt schläfrig machen kann und Stillende, Schwangere oder Kinder es nicht einnehmen sollten. Außerdem gibt es eine Warnung vor dem Autofahren und dem Bedienen von Maschinen nach der Einnahme. Auf der Vorderseite bestätigen farbige, große und gut sichtbare Siegel, dass das Produkt weder Gluten noch Lactose enthält, was manchem hier womöglich wichtiger ist. Ich mache den Test und frage die junge Frau, die in einer Ecke des Ladens hinter der Beratungstheke steht. Hier werden auch rezeptpflichtige Medikamente abgegeben. Ich sage ihr, dass Melatonin in Deutschland verschreibungspflichtig ist, weil man es für riskant hält und frage sie nach möglichen Nebenwirkungen. Sie dreht die Dose leicht ratlos in der Hand und wirft einen kurzen Blick auf die Beschriftung. „Nein“, sagt sie, „da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, das ist rein natürlich.“ Eine gründlichere Aufklärung bekomme ich auch nicht zu dem Hormon Dehydroepiandrosteron, das hier von der Marke Sundown Naturals als DHEA 50 mg verkauft wird, mit dem vagen Versprechen „may help support sugar metabolism“. „Das ist nicht für Kinder“ sagt sie da immerhin. So steht es auch auf der Packung. Überhaupt sind die Warnhinweise hier etwas ausführlicher gestaltet, auf das Risiko von Nebenwirkungen weisen sie zumindest indirekt hin. Frauen und Menschen mit einer Vor- oder Familiengeschichte von Brust- oder Prostatakrebs sollen vor der Einnahme ihren Arzt fragen. Ebenso solle man zum Arzt gehen, wenn einem als Frau nach der Einnahme an unerwünschter Stelle Haare wachsen oder die Periode ausbleibt, heißt es.
Ich wiederhole das Spiel mit einer Salbentube „Triple Antibiotic & Pain Relief“, die ich ebenfalls im Regal gefunden habe – sie enthält Bacitracin, Neomycin und Polymyxin – und stelle mich noch einmal dumm: „Kann das nicht die Bildung von Resistenzen fördern?“ Damit bringe ich die Dame zum Lachen. Nein, das sei doch so niedrig dosiert, da passiere nichts dergleichen. „Hinter der Theke hier haben wir noch ganz andere Sachen!“ Ich frage die Frau noch einmal, ob sie Apothekerin ist. Sie sagt „yes, I am a pharmacist.“ So steht es auch auf dem kleinen Schild an ihrem Revers. Paracetamol im 1000er Pack © Habich Was sagt ein deutscher Pharma-Experte zu dieser Beratung? Harald Schweim, unter anderem ehemaliger Leiter des BfArM und ehemaliger Professor für „Drug Regulatory Affairs“ an der Universität Bonn, ist wenig begeistert. Das mit den Antibiotika hätte eine Apothekerin besser wissen müssen, findet er: „Zunächst einmal ist es genau umgekehrt. Eine niedrige Dosierung fördert die Bildung von Resistenzen. Genau wie die Kombination: Hier ist ja allein schon die Zusammensetzung aus drei verschiedenen Antibiotika ein Verbrechen.“ Auch die Beratung zu Melatonin sei nicht zufriedenstellend ausgefallen. „Es hat natürlich eine ganze Reihe von problematischen Nebenwirkungen. Und es wird mit Versprechungen beworben, die nicht einhaltbar sind.“ Tatsächlich hat Melatonin ein Image als Anti-Aging-Mittel, ohne dass es dafür gesicherte Beweise gäbe. Auch DHEA gelte zu Unrecht als „neues Wundermittel“, führe zum Nachlassen der sexuellen Leistungsfähigkeit und wirke als Steroidhormon womöglich krebserregend. Der Fehler, sagt Schweim, liege aber auch im System: „Amerikanische Apotheker werden schlichtweg nicht für die Beratung zu rezeptfreien Medikamenten ausgebildet.“ Und selbst der Beipackzettel entfällt: „Die Idee dahinter ist, dass man eben selbst wissen sollte, was man da kauft.“ Allerdings dürften die wenigsten wissen, welche Substanzen sie zu sich nehmen – mal ganz davon abgesehen, welche Risiken das birgt. Die Medikamente sind auch nicht etwa nach Wirkstoffen sortiert. Sondern so, dass es Laien die Selbstmedikation möglichst leicht macht. Wer unter einer Augenentzündung leidet, kann zum Beispiel zwischen Regalen mit der Beschriftung „Dry Eye“, „Allergy & Itchy Eyes“ und „Redness & Pink Eyes“ „Eyes Treatment & Vitamins“ wählen.
„Im Gesundheitssystem der USA spiegelt sich eine Grundhaltung wider, die noch aus deren Gründungszeiten stammt. Und die besagt, dass sich jeder um sich selbst zu kümmern hat. Regulierungen gibt es wenige, weil alles brutal dem Markt untergeordnet ist“, sagt Schweim. Der freie Verkauf von Medikamenten sei im Grunde ja sogar nötig, weil so viele Menschen unversichert sind. „Wenn man dort aber ohne Versicherung zum Arzt geht, um sich ein Antibiotikum verschreiben zu lassen, kostet das schnell 200 $.“ Welche schlimmen Folgen so eine Politik haben kann, zeigt ein Blick in die Krankenhausstatistik. Laut einer Studie, die vor zwei Jahren im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde, suchen jährlich 23.000 Amerikaner wegen einer Überdosierung mit dem, was man hier als harmlose Nahrungsergänzungsmittel einstuft, die Notaufnahme auf. Wie viele darüber hinaus täglich mit OTC-Medikamenten ihrer Gesundheit schaden, weiß niemand so genau.
Ein Problem dabei ist neben der Selbst- auch die Multimedikation. So wurden in Europa die Packungsgrößen von NSA immer weiter verkleinert, unter anderem, um damit Suizidversuchen vorzubeugen. In den USA hingegen werden Paracetamol oder Acetylsalicylsäure (ASS) weiterhin in Riesendosen zu 500 oder 1000 Tabletten verkauft, was zum sorglosen Gebrauch verleitet. Und tatsächlich nehmen viele Amerikaner täglich ASS ein, weil sie das für gesund halten. Obwohl Experten das allenfalls für eine bestimmte Altersgruppe mit kardiovaskulärem Risiko empfehlen. Und weil Acetylsalicylsäure dem Magen schadet, greifen sie als nächstes zu Protonenpumpenhemmern, die ihrerseits Nebenwirkungen haben. Etliche weitere Medikamente, die am besten nur in Absprache mit einem Arzt eingesetzt werden sollten, stehen hier frei verkäuflich im Regal. Auch Stoffe mit Missbrauchspotential. Berüchtigt ist das Erkältungsmittel Robitussin, das den Wirkstoff Dextromethorphan enthält. Für dessen gängige Verwendung als Rauschmittel wurde sogar ein eigenes Wort erfunden: Robotripping. Vor einigen Jahren ergab die Erhebung einer amerikanischen Anti-Drogen-Organisation, dass sich jährlich 2,4 Millionen Jugendliche mit der Substanz berauschen. Dabei kam es auch schon zu Todesfällen durch Überdosierung. Obwohl all das seit vielen Jahren bekannt ist, beschließen erst nach und nach einige Staaten in den USA, zumindest den Verkauf an Minderjährige zu unterbinden. In Florida etwa sollen Erkältungsmittel mit Dextromethorphan seit Beginn diesen Jahres nicht mehr an Minderjährige verkauft werden. Wer jünger als 25 Jahre aussieht, muss an der Kasse seinen Ausweis vorzeigen. (In den gleichen Läden, die Robitussin verkaufen, bekommt man übrigens ohne Ausweis kein Bier wenn man jünger aussieht als 40.) Anleitung zur Selbstmedikation © Habich Dextromethorphan ist auch in Kombipräparaten enthalten, die es im deutschen Handel gibt. Allerdings ist die Dosierung deutlich niedriger, und der Preis im Verhältnis so hoch, dass er einen Missbrauch wenig attraktiv macht. Während aus deutscher Perspektive vieles unglaublich erscheint, was in den amerikanischen „Apotheken“ abläuft, ist es umgekehrt übrigens ähnlich. Als ich in den USA in einem Seminar an der Universität zu Gast bin, erzählt mir eine Studentin, wie sie sich einmal im Deutschland-Urlaub erkältet hat. „Ich wusste ganz einfach nicht, woher ich Medikamente bekommen sollte“, berichtet sie einigermaßen fassungslos. Ich versuche zu erklären, dass die strengeren Regeln zum Schutz der Menschen gedacht sind. Die Studenten nicken alle sehr höflich, so sind die Amerikaner. Ich habe den Eindruck, dass sie das irgendwie doch zutiefst seltsam finden. Harald Schweim ist mit dem europäischen System der Arzneimittelabgabe weitgehend zufrieden. „Wir haben viele vernünftige Regeln. Damit geht einher, dass manches vielleicht auch überreguliert ist.“ Zu schwierig ist es seiner Meinung nach zum Beispiel, in aussichtslosen Fällen vielversprechende, aber unzugelassene neue Medikamente ausprobieren zu können. „Ich halte das System aber immer noch für das beste, das es gibt.“ Das Prinzip der weitgehend unkontrollierten Abgabe in den USA hingegen bezeichnet er als „ganz einfach gefährlich.“