Zerrissen zwischen Job und Familie stießen zwei leidenschaftliche Kinderärzte auf eine Anzeige: "Vereinbaren Sie Familie und Beruf", warb eine norwegische Klinik. Lesen Sie den zweiten Teil der Serie "Kollegen über die Schulter geschaut".
Dauerstress in der Klinik und Schichtdienste, dazu ein wenig attraktives Gehalt und ein ständig fremd betreutes Kleinkind: Vier Gründe, warum Dr. Ilka Huber (34) und ihr Lebensgefährte Dr. Thorsten Gerstner (39) die Segel strichen und mit Kind nach Norwegen auswanderten. Beide arbeiteten in Deutschland als Kinderärzte. Sie an der Universitätsklinik in Mannheim, er an der Uniklinik in Heidelberg. Nach der Geburt ihres Sohnes widmete sich Frau Dr. Huber zunächst ganz ihrem Kind. Nach 12 Monaten kehrte sie mit einer 75 Prozent-Stelle zurück an ihren alten Arbeitsplatz. Auch ihr Mann reduzierte seine Arbeitszeit auf 75 Prozent. Doch dem einjährigen Emil bescherte die reduzierte Berufstätigkeit seiner Eltern trotzdem lange Tage im Kindergarten. "Eine derart gekürzte Stelle ist eine Farce unter deutschen Ärzten", so Dr. Huber. Denn beide arbeiteten oft genauso lange wie ihre Kollegen mit Vollzeit-Verträgen.
Ab nach Norwegen für mehr Familienzeit
Die beiden Kinderärzte stießen auf eine Anzeige einer norwegischen Klinik. Darin wurde mit dem Versprechen geworben, dass die Mitarbeiter Familie und Job problemlos miteinander vereinbaren könnten. Die Oberarzt-Stelle in Südnorwegen war sogar auf Deutsch ausgeschrieben. Dr. Gerstner bekam die Stelle, machte aber zur Bedingung, dass seine Frau die nächste freie und passende Postition erhalten müsse. Deshalb kehrten die beiden Kinderärzte und ihr kleiner Sohn vor etwa 2 Jahren Deutschland den Rücken zu, um in Arendal in Süd-Norwegen ein stressfreieres Familienleben zu beginnen. "Wir hatten keine Ahnung von Norwegen bevor wir hierher kamen", berichtet Dr. Huber. Beide sprachen kein Wort norwegisch. Einwanderer gibt es jedoch viele in Norwegen. Vor allem im Süden des Landes traf das Kinderarzt-Paar viele deutsche Ärzte. "Es gibt ein paar ausgesprochene Skandinavienliebhaber unter ihnen", so die Ärztin, "aber die meisten deutschen Ärzte kamen wegen der geregelten Arbeitszeiten hierher."
In Norwegen leben ca. 4,8 Millionen Menschen, etwa ein Viertel davon in der Großregion Oslo. Das Land erstreckt sich über 2.532 Kilometer. Noch vor 100 Jahren war Norwegen ein sehr armes Land, besiedelt von Bauern und Fischern. Enorme Erdöl- und Erdgasfunde vor der Küste des Landes haben Norwegen zu einem der reichsten Länder der Erde gemacht. Das Pro-Kopf-Einkommen eines Norwegers ist heute etwa doppelt so hoch wie das eines Deutschen. Natürlich waren auch die etwas höheren Gehälter ein Anreiz für die beiden Kinderärzte nach Norwegen auszuwandern. "In Norwegen verdienen Ärzte zwar wesentlich mehr als in Deutschland, haben aber auch höhere Lebenshaltungskosten", so Dr. Huber. Unterm Strich habe die Familie aber trotzdem mehr Geld zur Verfügung als in Deutschland – vor allem aber mehr gemeinsame Freizeit.
"Entschuldigung, das habe ich nicht verstanden"
Zunächst hörte sich alles unkompliziert an. Der Umzug und der Sprachkurs wurden von der norwegischen Klinik finanziert. Doch einen wichtigen Punkt hatten die beiden Kinderärzte bei Ihrer Auswanderung unterschätzt: "Mit Mitte 30 lernt man eine neue Sprache nicht mehr einfach so nebenbei", erinnert sich Dr. Huber. "Anfangs hatten wir beide große Schwierigkeiten uns auf Norwegisch auszudrücken." Eine pensionierte Norwegisch-Lehrerin unterrichtete die beiden Kinderärzte an drei Tagen in der Woche für drei Stunden – während der Arbeitszeit. Dr. Gerstner behandelte von Anfang an auch Patienten. Anfangs behalf er sich mit Englisch. Nach dem Norwegisch-Crashkurs wurde vieles leichter. "Wir waren oft frustriert, wenn wir uns nicht richtig ausdrücken konnten. Die norwegischen Patienten nahmen es jedoch gelassen – oder sprachen einfach englisch", berichtet die Ärztin. Ganz andere Erfahrungen hatte die Kinderärztin mit Patienten und Gastärzten an der Uniklinik in Mannheim gemacht. "Deutsche Patienten zeigten oft wenig Akzeptanz für Ärzte, die nicht fließend deutsch sprachen", erinnert sie sich. Manche verweigerten sogar eine Behandlung durch Gastärzte.
Geregelte Arbeitszeiten sind Standard
Dr. Huber und ihr Partner können in Norwegen beide in Vollzeit arbeiten, ohne dass das Familienleben auf der Strecke bleibt. "Unser Arbeitstag beginnt um 8 Uhr morgens und endet spätestens um 16 Uhr", berichtet sie. Hin und wieder müssen die Ärzte auch Schicht-Dienste übernehmen. "So ein Dienst beginnt dann etwa um 15 Uhr und endet am nächsten Morgen um 9 Uhr." Assistenzärzte leisten ihre Dienste in der Klinik, Oberärzte sind meistens auf Abruf zu Hause. Doch es gibt einen wesentlichen Unterschied zum deutschen System: "Trotz der Dienste beläuft sich die Gesamtarbeitszeit in Norwegen auf insgesamt 40 Stunden pro Woche", so Dr. Huber. In Deutschland müssen Ärzte die Dienste zusätzlich zur Kernarbeitszeit ableisten. So kam die Kinderärztin mit einer Vollzeitstelle am Universitätsklinikum in Mannheim oft auf eine Arbeitszeit von ca. 60 Stunden pro Woche. Bei ihrem Lebensgefährten sah es in Heidelberg ähnlich aus.
Dr. Huber genießt ihre Vollzeitstelle in Norwegen, denn sie mag ihren Job. Die babybedingte Arbeitszeitreduzierung in Deutschland empfand sie oft als nachteilig. "Ärztinnen mit Teilzeitjobs sind häufig nicht mehr so gut in wichtige Arbeitsabläufe integriert wie ihre in Vollzeit arbeitenden Kollegen", erinnert sie sich. Aber ihren kleinen Sohn nur früh morgens in die Krippe zu bringen und ihn im Idealfall, wenn sie nicht über Nacht in der Klinik bleiben musste, spät abends wieder ins Bett zu legen, entsprach nicht ihrem Bild eines Familienlebens und ließ ihre Unzufriedenheit wachsen.
Gesundheitssystem: Was machen die Norweger anders?
Das Gesundheitssystem in Norwegen ist staatlich geplant und kommunal organisiert. Alle Einwohner Norwegens sind bereits durch die Steuerabgabe krankenversichert, müssen also keine zusätzlichen Krankenkassenbeiträge entrichten. Ein wesentlicher Unterschied zum deutschen System besteht in der hohen Eigenbeteiligung der Patienten, durch die etwa 15 Prozent der Kosten im ambulanten Bereich gedeckt werden: Patienten müssen für jeden Hausarztbesuch einen Eigenanteil von umgerechnet rund 15 Euro bezahlen. Werden Medikamente verordnet, liegt der Eigenanteil des Patienten bei 36 Prozent pro Rezept, höchstens aber bei 30 Euro. Patienten müssen diese Eigenleistungen bis zu einer Summe von 200 Euro pro Jahr leisten. Was danach anfällt, wird vom Staat bezahlt. Vom Eigenanteil ausgenommen sind Medikamente für chronisch Kranke, Krebspatienten und solche, die in der Palliativmedizin eingesetzt werden.
Erste Anlaufstelle: Der Hausarzt
In Norwegen beginnt praktisch jeder Arzt-Patienten-Kontakt beim Hausarzt. Nahezu jede Person ist fest bei einem Hausarzt eintragen, der für seine Primärversorgung zuständig ist. Sollte der Hausarzt im akuten Krankheitsfall keinen Termin frei haben oder außerhalb der Sprechzeiten nicht zugänglich sein, steht in allen großen und mittelgroßen Städten und Orten ein Ambulanzzentrum zur Verfügung. Dort können außerhalb üblicher Geschäftszeiten und oft rund um die Uhr Patienten ärztlich versorgt werden. Nur, wenn der Hausarzt den Patienten an einen Facharzt überweist, kommt die Krankenversicherung für die Behandlungskosten auf. "Jeder Bürger bekommt eine Personennummer, über die die Behörden sowohl Gehälter als auch Arztbesuche einsehen können. Die ungewohnte Transparenz der persönlichen Daten empfanden wir anfangs als unangenehm", so Dr. Huber. Mit der Zeit gewöhne man sich aber daran, da es ja allen so gehe, erklärt sie.
"In Norwegen gibt es beispielsweise keine niedergelassenen Kinderärzte", erklärt Dr. Huber. Auch Kinder werden zunächst vom Hausarzt behandelt und ggf. an eine Klinik überwiesen. Die Zahl der Krankenhausbetten pro 1000 Einwohner liegt bei 3,3. Damit liegt sie deutlich unter der entsprechenden Anzahl von 8,3 in Deutschland (Stand 2010, OECD). Die stationären Behandlungen werden der Dringlichkeit entsprechend über Wartelisten gesteuert. "Die Norweger sind erstaunlich gelassen und warten oft monatelang auf den Termin für einen elektiven Eingriff", so Dr. Huber. Auch zwei bis drei Wochen Wartezeit auf einen Termin beim Hausarzt für ein nicht-akutes Problem akzeptierten die Einwohner Norwegens in der Regel ohne zu murren, berichtet sie.
Gehen oder bleiben?
Dennoch hat Norwegen laut OECD-Bericht 2010 die zweithöchsten Pro-Kopf-Ausgaben im Gesundheitswesen nach den USA. Sie lassen sich unter anderem damit erklären, dass in Norwegen 20 Prozent aller Berufstätigen im Gesundheitssektor tätig sind. Deutschland hat 11,6 Prozent Beschäftigte im Gesundheitswesen. Die Personalkosten im norwegischen Gesundheitssystem sind hoch, aber vermutlich profitieren die Beschäftigten auch von einer deutlich geringeren Arbeitsbelastung. Die junge Einwandererfamilie genießt die unkomplizierte Vereinbarkeit von Job und Familie – und vermisst Freunde und Familie aus Deutschland. Ob sie sich vorstellen können, für immer zu bleiben? "Im Moment ist Norwegen perfekt für uns, aber ob das für immer so bleiben wird, weiß ich nicht", resümiert Dr. Huber. Spätestens zum Schuleintritt ihres Sohnes wird eine Entscheidung fallen.