Er ist Professor an einer Hochschule, Arzt und Sozialarbeiter. In seinem Arztbus fährt er durch Mainz und kümmert sich um die ärztliche Versorgung wohnungsloser Menschen. Warum Prof. Trabert so sein inneres Gleichgewicht wieder herstellt, lesen Sie im dritten Teil der Serie "Kollegen über die Schulter geschaut".
Trotz oft schwerwiegender gesundheitlicher Probleme meiden Wohnungslose und sozial benachteiligte Menschen aus Angst vor Diskriminierung oder fehlender Krankenversicherung den Besuch beim Arzt. Das konnte Prof. Dr. Gerhard Trabert (56) mit Hilfe einer empirischen Studie, die er im Zuge seiner Promotion durchführte, verdeutlichen. Als erster Arzt in Deutschland bekam Trabert nach "einem langen Kampf" vor 20 Jahren eine Ermächtigung durch die Kassenärztliche Vereinigung Rheinhessen ausgestellt, trotz ausreichender Ärztedichte, wohnungslose Menschen in Mainz und Umgebung ärztlich versorgen zu dürfen. Falls seine Patienten krankenversichert sind, darf er die Kosten dafür abrechnen.
Das reicht zum Leben allerdings nicht aus. "Mein 'Hauptjob' ist die Professur für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie an der Hochschule Rhein-Main in Wiesbaden", berichtet Trabert. Dort unterrichtet der Arzt und Sozialarbeiter Studenten an 18 Stunden pro Woche. Nach den Vorlesungen versorgt und betreut Trabert wohnungslose Menschen in seiner Ambulanz – dem sog. Mainzer Modell der medizinischen Versorgung wohnungsloser Menschen. "Wenn der Patient nicht zum Arzt kommt, muss der Arzt zum Patienten gehen", schlussfolgerte er und richtete einen Bus zur mobilen ärztlichen Versorgung ein. "Die Idee dazu bekam ich bei einem achtwöchigen Indienbesuch", erinnert sich der Obdachlosenarzt. Dort wurden Leprakranke ebenfalls von mobilen Ärzteteams vor Ort versorgt.
Zurück in die Gesellschaft
Etwa die Hälfte der Patienten, die Trabert in seinem Bus besucht, ist krankenversichert. Die andere Hälfte behandelt er ehrenamtlich. "Mein Ziel ist es, die Menschen wieder ins Regelsystem zurückzuführen", so sein Anliegen. Eine "Armutsmedizin" wolle er nicht etablieren oder stabilisieren, bekräftigt der engagierte Arzt im Gespräch mit DocCheck. Mit dem Gesundheits- und Sozialministerium in Rheinland-Pfalz versucht er gerade zu klären, wie sozial benachteiligte Menschen schneller, einfacher und nachhaltiger krankenversichert werden können, "ohne tausend sozialbürokratische Hürden nehmen zu müssen." Grundsätzlich habe zwar jeder in Deutschland, der die Kriterien zum Erhalt von Arbeitslosengeld II (auch als Hartz IV bekannt) erfülle, das Recht, krankenversichert zu sein. Bei wohnungslosen Menschen sei die Krankenversicherung aber meist auf einen Monat befristet und müsse immer wieder neu beantragt werden. Das überfordere viele.
Lücken im Sozialsystem
Neben wohnungslosen Patienten suchen auch Patienten aus dem EU-Ausland, "illegalisierte Menschen", wie Trabert alle ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung bezeichnet, und Haftentlassene seine Ambulanz auf. "Haftentlassene können ihre Krankenversicherung erst nach dem Verlassen der Strafanstalt beantragen", erklärt Trabert das Problem. Dadurch müssten diese Menschen mehrere Wochen ohne Chipkarte bzw. Krankenversicherung leben, was gerade für chronisch Kranke zum Problem werde. "Es gibt noch so viele Löcher im sozialen System", so Trabert. Die zuständigen Stellen, mit denen der Sozialmediziner schon seit Jahren in regem Austausch steht, wüssten darum, reagierten aber einfach nicht. Ein derartiges Verhaltensmuster entspricht nicht seinem Naturell. Wenn es irgendwo Handlungsbedarf gibt, packt er mit an.
Hilfe für Kinder krebskranker Eltern
Vor zehn Jahren gründete Prof. Trabert einen Verein mit dem Namen "Flüsterpost", der sich für Kinder krebskranker Eltern stark macht. "Die Idee dazu bekam ich während meiner Arbeit auf einer onkologischen Station." Dort behandelte er zahlreiche an Brust- oder Gebärmutterhalskrebs erkrankte Frauen. Viele von ihnen wussten nicht, ob und wie sie mit ihren Kindern über ihre Erkrankung sprechen sollten und suchten Rat bei Trabert. "Beratungs- und Unterstützungsangebote für Familien gab es nur sehr wenige", erklärt er, warum er zusammen mit Anita Zimmermann, der Sozialpädagogin im dortigen Krankenhaussozialdienst, den Verein ins Leben rief.
"Kinder haben feine Antennen und nehmen die veränderte Situation besonders intensiv wahr. Sie trauen sich aber oft nicht, darüber zu sprechen. Insbesondere, wenn sie spüren, dass die Erwachsenen nicht offen damit umgehen", weiß Trabert, selbst Vater von vier inzwischen erwachsenen Kindern. Auch Kinder hätten das Recht auf Information und seien viel stärker und belastbarer als Erwachsene vermuteten. Trabert schrieb zwei Kinderbücher, die am Bild eines Aquariums und den darin lebenden Fischen, als Metapher, eine Krebserkrankung und deren Behandlungsmöglichkeiten kindgerecht erklären. Der Verein steht betroffenen Familien außerdem beratend zur Seite.
Immer da, wo es brennt
Während seines Indienbesuchs vor 20 Jahren stellte sich Trabert durchaus die Frage, im hilfsbedürftigen Ausland, in der sogenannten "Dritten Welt", zu praktizieren. "Zunächst wollte ich jedoch prüfen, ob ich nicht in meiner Heimat etwas gegen soziale Benachteiligung und Armut tun könnte", so Trabert. Seine Leidenschaft, in eine andere Kultur einzutauchen, ist jedoch geblieben. So half er als Arzt und Sozialarbeiter nach dem Erdbeben auf Haiti und nach dem Tsunami auf Sri Lanka. Weitere Auslandseinsätze führten ihn nach Afghanistan, Angola, Liberia, Pakistan, Ostgrönland und gerade kürzlich auch nach Äthiopien. Mit der Organisation "Prison Fellowship" besuchte Trabert zusammen mit anderen Ärzten äthiopische Gefängnisse, um dort Gefangene und deren Angehörige, sowie die Wärter zu behandeln. Die Reisekosten trug der Arzt und Sozialarbeiter selbst.
Privileg Arzt
"Als Arzt kann ich relativ schnell in die Intimität anderer Kulturen eintauchen und werde akzeptiert." Das empfindet er als Privileg. Auf die Frage, warum er das alles auf sich nehme, hat Trabert eine überraschend einfache Antwort: "Diese Einsätze erden mich." Er empfindet seine Auslandseinsätze sogar als eine Art Meditation, die ihm zu neuen Erkenntnissen über sich selbst verhelfen. In seinem Alltag in Deutschland verschiebe sich sein Fokus immer wieder auf Banalitäten. "Auf einmal drehen sich meine Gedanken nur noch um die Steuererklärung, das Haus, das Auto... Meine Auslandseinsätze benötige ich zur Erdung, Besinnung und Begegnung. Sie richten meinen Fokus wieder auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben."
Bei der Frage, welche das seien, muss Trabert nicht lange überlegen: "Mir sind authentische zwischenmenschliche Beziehungen wichtig, in denen materieller Status keine Rolle spielt." In Deutschland erlebe er das vor allem mit wohnungslosen Menschen. Aber auch mit Menschen, die unter einer lebensbedrohlichen Krankheit, wie Krebs leiden. Diese Menschen würden sehr schnell sehr intensiv miteinander kommunizieren – ohne Smalltalk. "Diese Menschen sind einfach, wie sie sind – ehrlich, authentisch." Das schätzt Trabert.
Poliklinik für sozial Benachteiligte
Momentan hat er sich ein Praxis- und Forschungssemester genommen. Sein Ziel ist es, in Mainz eine Poliklinik für sozial benachteiligte Menschen aufzubauen. Dort werden ab dem Frühjahr 2013 pensionierte Fachärzte ehrenamtlich ihre Sprechstunden anbieten. Außerdem sollen sich eine Krankenschwester und eine Sozialarbeiterin um die Menschen, die die Poliklinik besuchen, kümmern. Finanzieren will Trabert das Projekt aus den Einnahmen seiner Ambulanz für Wohnungslose und mit Unterstützung des Vereins "Armut und Gesundheit in Deutschland e.V.", also über Spenden.
Nehmen durch Geben
Ein Altruist sei er, ein Mensch mit übersteigertem Helfersyndrom. Trabert sieht das anders: "Mein Tun empfinde ich sogar als egoistisch, denn ich selbst profitiere von diesen Begegnungen sehr viel." Wäre das Verhältnis von Geben und Nehmen für den Sozialmediziner nicht ausgewogen, hätte er sich nicht so lange engagieren können. Von jeder seiner Reisen nimmt Trabert auch Denkanstöße aus fremden Kulturen mit – so auch von seinem Besuch auf den Cook-Inseln. "Wenn dort jemand unter einer psychischen Erkrankung leidet, müssen das alle wissen“, berichtet er. Denn jeder habe in dieser Gesellschaft die Verpflichtung, für diesen Menschen Verantwortung zu übernehmen. "Bei uns in Deutschland leider noch undenkbar."
Trotz des hohen sozialen Wohlstandes in Deutschland fühlt sich Trabert nicht mehr richtig wohl in seiner Heimat: "In den letzten Jahren sind wir immer mehr zu einer Ellenbogengesellschaft verkommen, dabei sollten wir doch eine Schulterschlussgesellschaft bilden, wenn wir uns weiterhin als eine humanistisch und christlich geprägte Gesellschaft verstehen!"