Gesünder soll sie sein, umweltverträglicher und ohne Risiken von Mangelerscheinungen, wenn man sie achtsam betreibt: die vegetarische Ernährung. Aber kann sie die hohen Erwartungen wirklich erfüllen?
Die Studienlage scheint auf den ersten Blick eindeutig: Vegetarier leben gesünder. Insbesondere im Bereich der Herz-Kreislauf-Erkrankungen sollen Menschen, die auf Fleisch verzichten, ein geringeres Krankheitsrisiko haben. Ein Grund könnte in ihrer Lebensmittelauswahl liegen: Vegetarier essen oft mehr Gemüse, Obst, Vollkornprodukte, Hülsenfrüchte und Nüsse, die das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen senken. Eine Metaanalyse aus England verzeichnete – je nach Ernährungsweise der Probanden – ein um 15 bis 30 Prozent vermindertes Risiko für Vegetarier, an einem Herz-Kreislauf-Leiden zu erkranken.
Vegetarische Kost kann auch therapeutisch von Bedeutung sein: Am Beispiel der rheumatoiden Arthritis konnte in Studien gezeigt werden, dass der Verzicht auf Fleisch, teilweise mit initialem Fasten, zu einer Symptomlinderung führt. Selbst wenn übrige Lebensstilfaktoren wie Rauchen, Alkoholkonsum oder Sport und soziodemografische Parameter ausgeklammert werden, bleiben die Vorteile einer vegetarischen Ernährung offensichtlich erhalten. In einer Vergleichsstudie hatten Vegetarier, unabhängig von ihren sonstigen Lebensgewohnheiten, ein um 36 Prozent niedrigeres Risiko, ein metabolisches Syndrom zu entwickeln.
Erhöhtes Kolorektalkarzinom-Risiko
Doch es gibt auch gegenteilige Studien: Nach Ergebnissen einer prospektiven Beobachtungsstudie im American Journal of Clinical Nutrition beispielsweise erkranken Vegetarier zwar insgesamt etwas seltener an Krebs. Doch der Fleischverzicht war mit einer deutlich erhöhten Rate eines Kolorektalkarzinoms assoziiert. Dass ein mäßiger Fleischkonsum auch nicht ungesund sein muss, bestätigte die im Jahr 2005 veröffentlichte Vegetarierstudie des Deutschen Krebsforschungszentrums. Die Heidelberger Forscher hatten 21 Jahre lang die Auswirkungen vegetarischer Kost auf das Sterberisiko untersucht. Vegetarier waren den Fleischessern in der Langlebigkeit keineswegs überlegen. Vegetarier seien lediglich bei gefäßverengenden Herzerkrankungen tendenziell weniger gefährdet.
Für Fleischliebhaber komme bei einer vegetarischen Ernährung vor allem eins zu kurz: Der Genuss. Außerdem sei das menschliche Verdauungssystem, evolutionsgeschichtlich betrachtet, für eine rein vegetarische Ernährung überhaupt nicht ausgelegt, argumentieren sie. Ginge man in die Steinzeit zurück, ernährten sich die damaligen Menschen nicht von Milchprodukten, Teigwaren und viel Obst und Gemüse, sondern hauptsächlich von Fleisch. Unser Verdauungssystem habe sich über die Jahrtausende nicht verändert. Jürgen Abraham, Schinkenhersteller und Vorsitzender der Bundesvereinigung Ernährungsindustrie, hält nur eine fleischhaltige Mischkost für gesund. "Mit dem Konsum von Eiweiß in Form von Fleisch ist das menschliche Gehirn zu seiner heutigen Größe gewachsen", äußerte er in der Sendung "hart aber fair". Wer auf Fleisch verzichte, riskiere Mangelerscheinungen, die sich in einem verminderten Eisen- und Vitamin-B12-Spiegel bemerkbar machten, so Abraham.
Für Dr. Christian Kessler, Arzt und Forscher in der Abteilung Naturheilkunde am Immanuelkrankenhaus in Berlin, sind das Mythen aus der Vergangenheit: "Menschen, die sich vielseitig, aber fleischlos ernähren, erleiden keine Mangelerscheinungen. Eine fleischlose lacto-ovo vegetarische Ernährung ist für Menschen aller Altersklassen, auch für Schwangere und Stillende empfehlenswert", so Kessler. "Allerdings nur, wenn man sich bewusst vegetarisch ernährt", fügt er hinzu. Kessler verweist auf die so genannten Puddingvegetarier, die zwar auf Fleisch verzichten, dafür aber auf Junkfood zurückgreifen oder sich sehr einseitig ernähren. Dabei könne es dann, je nach Lebensumständen, sehr wohl auch zu Mangelerscheinungen kommen.
Mit Mythen aufräumen
Am 9. Dezember 2012 fand unter der Leitung der Charité Hochschulambulanz für Naturheilkunde am Immanuel-Krankenhaus Berlin, des Vegetarierbundes und der Carstens-Stiftung die europaweit erste wissenschaftliche Fachkonferenz für Ärzte zu vegetarischer Ernährung in der Gesundheitsversorgung "VegMed" in Berlin statt. Prof. Claus Leitzmann, ehemaliger Leiter des Gießener Instituts für Ernährungswissenschaften und Eröffnungsredner der Veranstaltung, sagte: "Es ist höchste Zeit, Ärzte und Gesundheitsberater auf den neusten Stand in Sachen vegetarische Ernährung und Medizin zu bringen. Die Erkenntnisse der vergangenen Jahre sollten Mythen über Vegetarismus ausräumen und Perspektiven für die ärztliche Praxis schaffen."
Auf den Konsum von Fleisch zu verzichten, kann aus verschiedenen Gründen geschehen: Neben den gesundheitlichen Vorteilen, die eine fleischlose Ernährung offenbar mit sich bringt, lehnen die meisten Vegetarier schlichtweg das Töten von Tieren ab. Einige sorgen sich auch um die Umwelt – und das aus gutem Grund: Viehzucht verursache etwa ein Fünftel der Treibhausgase weltweit und Unmengen an verschmutztem Trinkwasser. Um eine Tonne Protein aus Fleisch zu gewinnen, sei eine vielfach größere Fläche nötig, als wenn die gleiche Eiweißmenge mit pflanzlicher Nahrung erzeugt würde. Die weltweite Überfischung der Meere und der fortschreitende Klimawandel liefern weitere Argumente, auf Fisch und Fleisch zu verzichten.
Authentische Vorbilder
Wie können Ärzte ihren Patienten Lust auf einen vegetarischen Lebensstil machen? Von dogmatischen Überzeugungsversuchen hält Kessler nichts. "Es ist viel spannender, die Leute einzuladen, sich auf Experimente einzulassen", berichtet er von seinen Erfahrungen in der Klinik, wo alle Patienten der naturheilkundlichen Station bereits seit Jahren ausschließlich vegetarisch verpflegt werden. "Wenn Ärzte weniger belehrend, sondern authentisch auftreten, inspiriert das die Patienten viel stärker, einen anderen Lebensstil auszuprobieren", so Kessler. Sich vegetarisch zu ernähren, bedeute schließlich nicht, einfach den Braten wegzulassen und nur die Kartoffeln mit der Bratensoße zu essen.
Stattdessen teilt der Arzt, der auch ambulante Patienten an der Charité Hochschulambulanz für Naturheilkunde betreut, gerne vegetarische Rezepthefte oder Veranstaltungshinweise auf Kochkurse aus. "Ich weiß zwar, dass fleischlose Kost gesund ist, versuche aber außerdem auch zu betonen, dass vegetarisches Essen lecker und lustvoll ist." Ein Fanatiker fleischloser Kost sei er allerdings nicht – und auch kein Dogmatiker. "Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob und wie viel Fleisch er essen möchte", so Kessler. Als überzeugter Vegetarier gebe er aber gerne Anregungen und Inspirationen für vegetarische Ernährungsformen.
Alternative: Flexitarismus?
Wer sich nicht entscheiden kann, isst einfach weniger Fleisch. Die so genannten "Flexitarier" verzichten weitgehend auf Fleisch, nur gelegentlich geben sie ihren Gelüsten noch nach. Sarah Wiener, Flexitarierin, Köchin und Restaurantbesitzerin, konsumiert Fleisch „wie einen Kuchen: Als etwas Besonderes, etwas Seltenes, etwas, das ich schätze, weil es eine gute Qualität und einen Preis hat.“