Wichtige Arzneistoffe sind nicht zugelassen, nicht lieferbar oder nicht bezahlbar. Ein Gedankenexperiment: Ärzte könnten aktiv werden, indem sie Pharmaka off-label verordnen oder gar selbst Medikamente synthetisieren. Wo liegen die Möglichkeiten und Grenzen?
Krebs zählt zu den komplexesten Erkrankungen schlechthin. Nicht immer führen Leitlinien oder Chemotherapie-Protokolle zum Erfolg. Das war schon immer ein Grund für Ärzte, selbst aktiv zu werden und Wirkstoffe jenseits der Zulassung einzusetzen. Die Lage scheint sich geändert zu haben: „Ich habe den Eindruck, dass Off-Label-Therapien weniger vorkommen als zum Beispiel vor 20 Jahren“, sagt Dr. Klaus F. (Name geändert), Onkologe aus Nordrhein-Westfalen. Warum ist das so?
Heute würden Zulassungen viel enger gefasst werden als noch vor 20 Jahren, lautet seine Erklärung. „Damals konnte man einfach jedwede Chemotherapeutika bei Tumorpatienten ‚ausprobieren’ oder auch Antikörper (Rituximab) recht breit einsetzen.“ Mittlerweile würde das „von den Kassen begutachtet“, und es könne zu Regressen kommen. Klaus F. zufolge gebe es nur noch bei Hochschulen eine Ausnahme; sie hätten aus mehreren Gründen „ein breiteres Kreuz“. Gesetzliche Krankenversicherungen sind vorsichtig, man will ja nicht die Forschung torpedieren. Vielleicht steckt ja eine Studie hinter Off-Label-Anwendungen. Sollten alle Stricke reißen, muss der Steuerzahler bei Regressen blechen, und nicht der Praxisinhaber. Wirtschaftlich haftet die Uniklinik, aber keine Einzelperson. Klaus F.: „In Arztpraxen gibt es ganz wenig off-label, es sei denn, es wird vom MdK generell gutgeheißen.“ Als Beispiel nennt er Rituximab bei Immunthrombozytopenien. „Da wird Roche nie eine Studie machen, weil die Erkrankung zu selten ist und es schon Biosimilars gibt“, vermutet der Onkologe. Die Wirksamkeit sei jedoch anhand von Phase 2-Studien nachgewiesen worden: ein seltener Fall.
Es geht aber nicht nur um Indikationen beziehungsweise Zulassungen, sondern auch um Preise für Pharmaka. Ärzte und Apotheker kennen beispielsweise Chenodesoxycholsäure seit Jahrzehnten. Das Molekül leitet sich chemisch von Gallensäuren ab. Weder die Idee noch die Herstellung sind mit sonderlichem Aufwand verbunden. Chenodesoxycholsäure © Wikimedia Commons, CCO Als Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen (Orphan Drug) ist es jedoch eine veritable Geldquelle. Xenbilox®, so der frühere Präparatname, kommt bei zerebrotendinöser Xanthomatose (CTX) zum Einsatz. Erkrankte können aufgrund genetischer Defekte keine Gallensäuren herstellen. Ihnen verordneten Ärzte früher Xenbilox® zum Preis von 2.938,50 Euro für 100 Kapseln à 250 Milligramm. Das ist nicht gerade ein Schnäppchen, doch es geht noch schlimmer: Der Hersteller änderte seinen Namen und im gleichen Atemzug auch seine Preispolitik. Das identische Präparat kostet als Chenodesoxycholsäure Leadiant® plötzlich 22.438,50 Euro – für die gleiche Menge, versteht sich.
In den Niederlanden laufen Health Professionals jetzt Sturm. Die Pharmaceutical Accountability Foundation, eine gemeinnützige Stiftung medizinischer Fachkräfte, sieht bei Missständen wie diesen nicht mehr tatenlos zu. Juristen der Gruppe bereiten derzeit eine Klage gegen Leadiant Biosciences vor. „Einige Unternehmen missbrauchen das System, um höhere Gewinne zu erzielen, und Patienten sind betroffen, wenn billige, erschwingliche alte Produkte nicht mehr erhältlich sind“, erklärt Wilbert Bannenberg gegenüber der Financial Times. Er ist Leiter der Initiative. „Das mag legal sein, ist aber sozial nicht akzeptabel.“ Unabhängig davon entwickelten Ärzte, die Patienten mit CTX im Amsterdam Medical Center behandeln, eine Synthese von Chenodesoxycholsäure zum Selbstkostenpreis. Solche Synthesen sind einfach, jedes größere Hochschullabor hat die erforderliche Ausstattung. Damit verringerten sich die Jahreskosten von 200.000 auf 25.000 Euro, bezogen auf niederländische Preise. Wenig überraschend unterstützen niederländische Krankenkassen das Projekt, da immense Gelder eingespart werden. Leadiant forderte niederländische Behörden auf, Ärzte zu stoppen, nachdem Verunreinigungen bei der Produktion Marke Eigenbau aufgetreten waren. Carla Hollak vom Amsterdam Medical Center sagte zu, die Prozesse zu optimieren. Sie machte aber auch klar, weiter zu produzieren, sollte das Unternehmen seine Preispolitik nicht ändern. „Ich bin völlig gegen Maßnahmen der Pharmaindustrie, um ein Monopol zu erlangen und ein Medikament zu solchen Preisen zu verkaufen“, sagte Hollak der Financial Times. Der Hersteller selbst rechtfertigt sich mit hohen Kosten bei der Zulassung.
Baclofen (vorne) und Kartuschen des 3D-Syntheseautomaten (hinten) © Philip J. Kitson Ein weiteres Problem: Banale Arzneistoffe wie L-Thyroxin, Ibuprofen oder Methotrexat sind oft nicht lieferbar. Als eine mögliche Lösung stellt Philip J. Kitson von der University of Glasgow einen 3D-Drucker mit besonderen Eigenschaften vor: Sein Tool synthetisiert über Kartuschen mit Chemikalien das Muskelrelaxans Baclofen, das Antiepileptikum Lamotrigin oder den bei uns nicht gebräuchlichen magenschützenden Wirkstoff Zolimidin. Eine Software hilft bei der Planung und Durchführung der Synthesen. Kitsons Automat könnte in jeder größeren Praxis stehen. Je nach Inhalt der Minibehälter sind unterschiedliche Reaktionen möglich: bislang eine Utopie. Deutlich realistischer ist ein 3D-Drucker, um Pillen mit Levetiracetam herzustellen. In 2016 hat die US-Arzneimittelbehörde FDA dafür grünes Licht gegeben. Es geht um patientenindividuelle Dosierungen des Antiepileptikums, aber nicht um die Synthese. In Deutschland hätten Ärzte mit der Synthesebox allerdings wenig Freude, da sie im Normalfall kein Dispensierrecht haben: Medikamente dürfen nur Apotheken herstellen und abgeben. Auch hier gelten Grenzen. Die Arzneimittel müssen zugelassen werden, bevor sie in den Verkehr gebracht werden (Arzneimittelgesetz §4 u.a.). Ausnahmen gibt es nur bei Rezepturen oder Defekturen (Apothekenbetriebsordnung, §6-7, u.a.). Solche Regulierungen sind nicht von der Hand zu weisen. Denn wer überwacht beim Syntheseautomaten die Reinheit der Produkte? Wohin Pfusch führen kann, hat der Valsartan-Skandal gezeigt.