Das Wahrnehmungsvermögen steigern: Dies erhoffen sich selbsternannte "Bodyhacker" und lassen sich Sensoren für UV-Licht oder Magnetfelder implantieren. Doch besonders geeignet sind Bodyhacker-Methoden für Patienten mit defekten Sinnesorganen.
Er bezeichnet sich selbst als ersten anerkannten "Cyborg". Das Bild im Pass zeigt einen Kopf, aus dem von hinten ein Gerät herausragt, das einer Antenne oder einem Insektenfühler ähnelt. Fest mit dem Schädel verbunden, erweitert es nach den Worten seines farbenblinden Trägers die Möglichkeiten, seine Umwelt wahrzunehmen. Der Fühler ist eine Kamera mit angeschlossenem Prozessor, der Farbinformationen in Töne umwandelt. Erweiterung? Ja, denn die Möglichkeit, ein "eintöniges" Rapsfeld oder eine "symphonische" Blumenwiese zu hören, genügte Neil Harbisson nicht. Der gebürtige Brite, der heute in Barcelona lebt, kann inzwischen auch Infrarot und Ultraviolett hören - nach eigenen Worten vorteilhaft bei Sonnenbädern oder in der Dunkelheit.
Zusatzausstattung für menschliche Sinne
Cyborgs sind Hybride zwischen natürlichem Leben und moderner Technik. Harbisson ruft mit seiner "Cyborg-Foundation" Menschen auf, das Spektrum ihrer Sinne mit Sensoren zu vergrößern und sich neue Fähigkeiten anzueignen, vermittelt durch die Werke kluger Ingenieure und eingebaut in den menschlichen Körper. Ein anderer Name, den sich diese scheinbar verrückte Gesellschaft gegeben hat, lautet "Bodyhacker". Wer im entsprechenden Forum bei "Biohack.me" nachschlägt, erfährt mehr über das technische Tuning, mit dem die Anhänger ihren Körper mit den Fähigkeiten von Haien (Sensoren für elektromagnetische Felder), Vögeln (UV) oder Fledermäusen (Ultraschall) anreichern wollen. Tim Cannon beschreibt etwa die Erfahrungen mit einem beweglichen Magneten unter der Fingerkuppe. Er spürt ein Kribbeln in der Nähe von elektromagnetischen Feldern - bei Mikrowellen oder Stromleitungen. Eines der neueren Projekte ist ein Radarsystem namens "Bottlenose", das seinem Träger helfen soll, sich im Raum zu orientieren.
Eye-Music schärft die Wahrnehmung
Jenseits der Welt der Cyborg/Bodyhacking-Gemeinde gibt es noch weitere Forschungsansätze die sich mit zusätzlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten für den Menschen auseinandersetzen. Die Forschungsorganisation des amerikanischen Verteidigungsministeriums DARPA steckt jedes Jahr zweistellige Millionensummen in die Vernetzung von Mensch und Technik, um US-Soldaten zu "optimieren". Im Labor von Ami Amedi an der Universität Jerusalem wandelt ein Minicomputer die Signale einer Kamera zunächst in Schwarz-Weiß Eindrücke und anschließend in Töne um. Sie sollen Blinden helfen, sich ein opto-akustisches Bild ihrer Umgebung in Form von Konturen zu machen. Die Tonhöhe kodiert dabei die Lage eines Bildpunkts über dem Horizont. Eine Tonleiter zeichnet also für die Testperson eine gleichmässig ansteigende Linie. Schon nach wenigen Übungsstunden können die Probanden grobe Konturen nachzeichnen. In der Weiterentwicklung kommen dann auch Farben ins Spiel. Beim Projekt "Eye-Music" ist der Trompetensound Blau, während die Geige für die Farbe Gelb steht. In einer Veröffentlichung in der angesehenen Fachzeitschrift PLoS One zeigen Amedi und seine Kollegen im Test mit kongenitalen Blinden, dass eine solche Technik der sensorischen Substitution diesen Personen zu einer Wahrnehmung ihrer Umgebung in bisher unerreichter Schärfe verhilft.
Zielgenaue Bewegungen dank Sonar-Handschuh
Der Amerikaner Paul Bach-y-Rita hatte schon vor rund 50 Jahren daran gedacht, Blinden optische Eindrücke durch andere Reize zu ermöglichen. Nach seinen Ideen entstanden Geräte, die Bilder in Druckreize auf die Haut umsetzten. Heute ersetzt etwa ein "Sonar-Handschuh" die Kamera und überträgt damit die Daten mittels des entsprechenden Handschuhs auf die Haut. Im englischen Milton Keynes forschten Wissenschaftler einige Zeit am "e-sense" Projekt, das ein Kamerabild in ein Muster vibrierender Stifte auf dem Bauch übersetzt. So reichen schon rund 20 geometrisch angeordnete Stimulatoren, um etwa Kinder mit einer Augenbinde derart zu trainieren, dass sie mit der Hand einen auf sie zufliegenden Ball trafen.
Leitfähige neue Organe
Es sind aber nicht nur Sinneseindrücke, die Sensoren des Körpers durch implantierte Technik erweitern. Ein Sensorchip, entwickelt von Bernhard Wolf an der TU München, misst die Sauerstoffkonzentration im Gewebe. In der Nähe von unzugänglichen oder langsam wachsenden Tumoren kann er deren Aktivität überwachen und die Daten an einen mobilen Empfänger – etwa ein Smartphone – weiterleiten. Geplant sind auch Sensoren für den Säuregehalt und die Temperatur im wenige Quadratzentimeter großen Chip. Noch mehr Möglichkeiten bietet wohl eine Entwicklung von der Harvard University, die "Nature Materials" vor einigen Monaten publizierte. Ein biokompatibles Geflecht mit "Nano-Drähten", welches im Nervengewebe oder bei Herzmuskelzellen die elektrische Aktivität erspüren kann.
Ein Hybrid mit natürlichen Materialien wie etwa Kollagen könnte in der regenerativen Medizin als Basis zum Wiederaufbau von Organstrukturen mit eingebauten Messfühlern zum Funktionstest dienen. Biochips, die ganz dosiert im Körper Wirkstoffe abgeben, sind dagegen schon Wirklichkeit. In Dänemark bestätigte eine Studie Anfang dieses Jahres die Wirksamkeit einer ferngesteuerten Apotheke im Körper gegen Osteoporose.
Spürbare Orientierungshilfe
Noch nicht eingebaut, aber bei Bedarf zuschaltbar ist die Navigationshilfe "Feelspace" der Universität Osnabrück, die schon vor einigen Jahren erprobt wurde. Der Gürtel ist innen mit Vibratoren ausgestattet, vorne sitzt eine Steuereinheit mit Kompass. Eine fühlbare Stimulation entspricht dabei der Nordspitze der Kompassnadel. Den Träger informiert der Gürtel damit – unabhängig vom Sonnenstand – ständig über seine Orientierung. Udo Wächter, einer der Tester, trug ihn sechs Wochen lang und beschrieb in einem Artikel des Magazins "Wired" seine Eindrücke: "Ich merkte plötzlich, dass sich meine Wahrnehmung verändert hatte. Ich hatte eine Art inneren Stadtplan in meinem Kopf, der mich immer heimfinden ließ. Auch an unbekannten Orten hatte ich nicht das Gefühl, orientierungslos zu sein."
Rasche Anpassung
Überhaupt lässt sich das Gehirn mit etwas Geduld und Fleiß schnell auf neue Eindrücke ein und verarbeitet sie, als wären sie immer schon da gewesen. Schon vor mehr als 50 Jahren setzte der Österreicher Ivo Kohler seinen Probanden Brillen auf, die den Seheindruck auf den Kopf stellten. Bereits nach einigen Wochen hatten die Probanden sich so sehr an das Bild im virtuellen Kopfstand gewöhnt, dass sie das als völlig normal empfanden. Ähnlich ergeht es etwa Personen, die das Bild ihrer Umwelt per Druck auf die Haut zu spüren bekommen. Schon bald nach den ersten Trainingstagen nehmen sie nicht mehr nur die Berührungen auf der Haut wahr, sondern "sehen" ihre Umwelt wieder, wenn auch auf andere Art. Bei Blinden wird, wie Magnetresonanzuntersuchungen beweisen, dabei auch der visuelle Kortex aktiv. Etwas pathetischer drückt es der farbenblinde Neil Harbisson aus: "Als ich anfing farbig zu träumen, wusste ich, dass sich die Software und mein Körper vereinigt hatten."
Nach der sechswöchigen Testphase des "Feelspace"-Gürtels wurde deutlich, wie schnell sich der Körper an zusätzliche Informationen gewöhnt hatte. Udo Wächter vermisste den ständigen Reiz der spürbaren Magnetnadel so sehr, dass er sich bald danach ein GPS-Gerät kaufte und darauf ständig nach Hinweisen auf seine Position suchte.