Fachkräftemangel, kontroverse Debatten um eine Frauenquote und gesetzlich garantierte Krippenplätze: Gender-Themen halten Politiker mächtig auf Trab. Die Medizin bildet keine rühmliche Ausnahme – Chefärztinnen sind Mangelware.
Die Medizin ist weiblich, ohne jeden Zweifel. Laut Statistischem Bundesamt studierten im Wintersemester 2011/12 genau 27.738 Männer (38 Prozent) und 45.699 Frauen (62 Prozent) Medizin. An sich eine gute Nachricht, doch was passiert nach der Approbation?
„Persistenz traditioneller Vorstellungen“
Forscher gingen im Rahmen der KarMed-Studie ("Karriereverläufe von Ärztinnen und Ärzten in der fachärztlichen Weiterbildung"), einer multizentrischen Kohortenstudie, entsprechenden Fragestellungen nach. Mit über 1.000 Datensätzen von Absolventinnen und Absolventen untersuchten sie, welche Zukunftsperspektiven junge Ärztinnen und Ärzte haben. Die Hälfte der Männer, aber nur 29 Prozent der Frauen sehen sich später in leitender Position als Chefarzt beziehungsweise Oberarzt. Und 80 Prozent der Männer, aber nur 40 Prozent der Frauen, streben eine Vollzeittätigkeit an. "Die Ergebnisse weisen auf die weitgehende Persistenz traditioneller Vorstellungen zu Beginn der fachärztlichen Weiterbildung bezüglich Beruf und Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern hin", kommentieren die Studienautoren ihre Ergebnisse. Bei einer Tagung zu KarMed sagt Projektleiter Professor Dr. Hendrik van den Bussche: "Wir stellen immer wieder fest, das Ärztinnen – insbesondere mit Kindern – kaum eine Chance haben, an die Spitze zu gelangen. Wir haben zudem beobachtet, dass Ärztinnen ihre Ansprüche auf jeder Stufe der Karriereleiter im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen eher einschränken."
Seine Karriere – ihre Karriere
Dass sich KarMed-Prognosen tatsächlich erfüllen, ist traurige Realität. Im Rahmen seiner "Grunddaten der Krankenhäuser" veröffentlich das Statistische Bundesamt regelmäßig Zahlenmaterial, zuletzt für 2011. Bundesweit waren im letzten Jahr 154.244 Ärztinnen und Ärzte in Klinken tätig, darunter 85.699 Männer und 68.545 Frauen. In Teilzeit arbeiteten 7.381 Kollegen und 20.376 Kolleginnen. Unter den leitenden Ärzten befanden sich 12.100 Männer und 1.296 Frauen, und unter den Oberärzten 26.075 Männer sowie 9.369 Frauen. Bei Habilitationen im Bereich Humanmedizin beziehungsweise Gesundheitswissenschaften betrug der Frauenanteil lediglich 22,3 Prozent. "Nach wie vor sind Frauen im wissenschaftlichen Spitzenbereich stark unterrepräsentiert", weiß Dr. Regine Rapp-Engels vom Deutschen Ärztinnenbund.
Führung – nur in Vollzeit?
Das deutsche System ermöglicht nach wie vor kaum Führungspositionen in Teilzeit, und schon gar nicht für Oberärzte beziehungsweise Chefärzte. Vor diese Wahl gestellt, entscheiden sich viele Frauen – zwangsweise – für ihre Familie und gegen die Karriere. Nach der Babypause arbeiten sie oftmals nur noch stundenweise. Ein Beispiel: Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe befragte 775 Frauenärztinnen und 261 Frauenärzte zu ihrer aktuellen beruflichen und privaten Situation. Beide Geschlechter gaben an, Karriere und Kinder seien nur schwer miteinander vereinbar – vor allem fehle die Möglichkeit, Kinder vor Ort betreuen zu lassen. Fachärztinnen hatten durchschnittlich weniger Kinder als Fachärzte in diesem Bereich, nämlich 1,06 versus 1,68. Letztlich kann es sich Deutschland nicht leisten, auf das Know-how von Expertinnen zu verzichten, im gleichen Atemzug aber über fehlende Fachkräfte zu jammern. Skandinavische Länder oder die Niederlande zeigen Alternativen: Führungsstellen lassen sich teilen. Und zwar nicht nur in halbe Stundenzahlen, sondern in sinnvolle Arbeitsbereiche. Akademikerfamilien müssen aber auch selbst umdenken.
Bessere Arbeitsbedingungen statt Flexi-Quote
Traditionelle Rollenmodelle bremsen nicht selten den beruflichen Erfolg. Während Männer die Karriereleiter erklimmen, kümmern sich Frauen um die Kinder – entscheidende Weichenstellungen passieren beruflich wie privat im gleichen Zeitfenster. Danach ist der Zug meist abgefahren. So berichten 34,3 Prozent der Ärztinnen mit Nachwuchs sowie 23,8 Prozent der kinderlosen Ärztinnen, unter geschlechtsspezifischen und gesellschaftlichen Hindernissen zu leiden. Das brachte die Studie "Ich bin Ärztin" zu Tage. Von politischen Modellen sind weder Klinikbetreiber noch Kolleginnen sonderlich begeistert. Rapp-Engels: "Mit der Flexi-Quote kommen Ärztinnen nicht an die Spitze – weder als Chefärztinnen, noch in ärztlichen Gremien." Vielmehr fordern Frauen bessere berufliche Rahmenbedingungen. Nachtdienste, unzählige Überstunden sowie der Spagat zwischen Forschung und Klinik – parallel zur Familie sind entsprechende Belastungen kaum zu bewältigen. Mit flexiblen Arbeitszeiten und Kinderbetreuung allein ist es aber nicht getan.
Mars und Venus im Vorstellungsgespräch
In den Führungsetagen, und hier machen Klinken keine Ausnahme, bestimmen Männer mit typischen Verhaltensmustern die Spielregeln. Ärztinnen wollen nicht selten durch Leistung überzeugen, während Ärzte schon im Studium Netzwerke knüpfen, in die Frauen nur schwer Zugang finden. Frauen schätzen Gestaltungsspielräume und einen erfüllenden Beruf – Männer wollen Einfluss, Macht und Spitzenpositionen. Chefärzte selbst gehen mit diesem Rollenmodell bewusst oder unbewusst an die Auswahl neuer Führungskräfte, und das sind häufig Männer.
Große Klappe – gutes Geld
Erlernte Verhaltensweisen prägen auch so manches Vorstellungsgespräch: Während "er" nicht selten hoch pokert, verkauft "sie" sich teilweise unter Wert. Die Unternehmensberatung Kienbaum ermittelt in regelmäßigen Abständen Gehälter diverser Führungskräfte. Ein Ergebnis: Nichtärztliche Geschäftsführerinnen erhalten im Schnitt 146.000 Euro pro Jahr – und damit 12.000 Euro weniger als Männer in gleicher Position. Bei Chefärztinnen liegt der Gehaltsunterschied sogar bei 20.000 Euro. Alle Daten basieren auf 176 Kliniken und 2.414 Interviews.
Kammern und Kliniken in der Pflicht
Ein gesellschaftliches Minenfeld, das dringend Lösungen erfordert: Hendrik van den Bussche reümiert, dass "Krankenhausträger für Arbeitsbedingungen und die Ärztekammern für Weiterbildungskonzepte sorgen müssen, die es Ärztinnen besser als bisher ermöglichen, ihre Weiterbildung erfolgreich abzuschließen, voll berufstätig zu sein und leitende Positionen einzunehmen". Darauf wollten die Sana Kliniken nicht warten. Sie gingen ihren eigenen Weg und haben heute, je nach Bereich, bis zu 57 Prozent Chefärztinnen – ein bundesweiter Rekord. DocCheck fragte Jan Stanslowski, Mitglied des Vorstands und Arbeitsdirektor, nach Hintergründen und Strategien.
"Löcher in die gläserne Decke bohren"
Bundesweit sind laut MLP-Gesundheitsstudie rund acht Prozent aller Chefärzte weiblich. In den Sana Kliniken beträgt der Anteil an Frauen in ärztlichen Führungspositionen 28 Prozent, mit einer weiten Spreizung: In der Frauenheilkunde und Geburtshilfe arbeiten 57 Prozent Chefärztinnen, 34 Prozent in der innere Medizin, 14 Prozent in der Chirurgie und 12 Prozent in der Orthopädie. DocCheck sprach mit Jan Stanslowski, Mitglied des Vorstands und Arbeitsdirektor bei den Sana Kliniken, über die Personalstrategie.
DocCheck: Herr Stanslowski, Frauen studieren häufiger Medizin als Männer, kommen aber seltener in Leitungspositionen. Die Gründe? Stanslowski: Das liegt häufig an tradierten Organisationsstrukturen, die es besonders Frauen erschweren, in einer Phase, in der sie Beruf und Familie verbinden, wichtige Karriereschritte zu unternehmen. Hier ist auch das Arbeitszeitmodell zu nennen, wir haben 365 Tage abzudecken, 24 Stunden pro Tag. Ein Teil der sehr, sehr talentierten Ärztinnen stößt irgendwann an die Grenze ihrer Organisationsfähigkeit. Männliche Kollegen, die nach wir vor selten eine große Rolle in Familien übernehmen, sind weitaus seltener betroffen.
DocCheck: Häufig ist von mangelndem Selbstvertrauen junger Ärztinnen zu hören. Stanslowski: Es werden viele Ärztinnen ausgebildet, mangelndes Selbstvertrauen sehe ich bei Kolleginnen nicht. Sie haben die besseren Abiturnoten, sie entscheiden sich für ein Medizinstudium, sie kommen mit den Zugangsbedingungen klar. Aber wir verlieren einen Großteil hochbegabter Medizinerinnen auf dem Weg, sobald familiäre Fragestellungen zum Tragen kommen und in der Paarbeziehung einfach Schwerpunkte gesetzt werden müssen.
DocCheck: Was haben die Sana Kliniken dagegen unternommen? Stanslowski: Bis Ende 2012 haben unsere Häuser flächendeckend an der Auditierung „Beruf und Familie“ teilgenommen – als einziger Krankenhauskonzern bundesweit. Ein Resultat: Wichtig sind oftmals die kleinen Dinge wie Aufmerksamkeit, Reflexion, Dienstplan, Arbeitsplatz, Arbeitsorganisation. Wir haben einen Familienservice gegründet und bieten wichtige Leistungen an, etwa Notfallplätze für Kinderbetreuung, falls der Dienst mal länger dauert. Die Kinder werden anfangs eingewöhnt, sie kennen die Bezugspersonen und können kurzfristig betreut werden. Das heißt für uns im Klartext: Jetzt anrufen – im Anschluss den Nachwuchs vorbeibringen. Das muss einfach und niederschwellig sein, sonst bringt das nichts. Ansonsten beteiligt sich der Konzern an Kita-Plätzen finanziell, ein Teil unseres Tarifvertrags. Kolleginnen und Kollegen haben auch Möglichkeiten der flexiblen Arbeitszeitplanung, um etwa nur in der Kernzeit zu arbeiten. Im ärztlichen Dienst gibt auch flexible Teilzeitangebote, etwa in einem Jahr 40 Prozent, im nächsten Jahr 60 Prozent. Wir wollen Mitarbeiterinnen schließlich nicht verlieren. Wiedereinstiegsprogramme gehören ebenfalls dazu. Unser Ziel bleibt jedoch, ein Umfeld zu schaffen, das Karriere und Familie fördert: nicht nur pro Krankenhaus, sondern viel engmaschiger pro Abteilung.
DocCheck: Mit der Kinderbetreuung allein ist es nicht getan. Stanslowski: Wir haben einen hohen Bedarf an Homecare- und Elder Care-Leistungen. Die demographische Entwicklung spielt sich ja auch bei unseren Mitarbeitern ab. Kolleginnen zwischen 30 und 40 haben Eltern jenseits der 70. Auf diese Problemstellungen sind Einrichtungen generell viel weniger trainiert. Auch hier beraten wir über den Familienservice. Hinzu kommt ein anonymes Lebenslagencoaching – telefonisch, nicht internetbasiert. Als lernende Organisation entwickeln wir uns selbst weiter und identifizieren neue Tätigkeitsfelder.
DocCheck: Wie unterstützen Sie speziell weibliche Führungskräfte? Stanslowski: In der Personalentwicklung bieten wir Programme für Oberärztinnen und Oberärzte an, um Führungs- und Managementfähigkeiten zu fördern sowie Inhalte der Betriebswirtschaft zu erlernen. Wir achten sehr genau auf die Zahl weiblicher beziehungsweise männlicher Teilnehmer an diesen Modulen, um quasi Löcher in die gläserne Decke zu bohren. Ähnlich funktionieren interdisziplinäre Potenzialförderprogramme mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Medizin, Pflege und Verwaltung – nicht nur für die „Herren der Schöpfung“, die alles super organisiert bekommen. Vielmehr sollen auch Angestellte mit familiären Verpflichtungen an dem Kurs teilnehmen können.
DocCheck: Gab es anfangs Vorbehalte gegen diese Strategie? Stanslowski: Nein! Wir sind zu Beginn des Audits auf offene Ohren gestoßen, das ist Teil der Unternehmenskultur. Traditionsgrenzen gab es keine, allerdings war das Thema schon lange im Personalmanagement verankert. Natürlich führt ein hoher Prozentsatz an Chefärztinnen mehr oder minder dazu, dass junge Ärztinnen ihre Wege finden.
DocCheck: Ihre Strategie: auch ein Vorteil im Wettbewerb um die "besten Köpfe"? Stanslowski: Das Thema Beruf und Familie haben wir in unserer Marke als Arbeitgeber stark verankert, als Kernbotschaft nach außen. Wir merken bei Befragungen oder Rankings, dass wir mit dem Thema im Arbeitsmarkt angekommen sind. Unsere Botschaft an Bewerberinnen: Beruf und Karriere, bei uns ist beides möglich. Unser Fokus ist nicht, dass Angestellte zu Gunsten ihres Aufstiegs auf Kinder verzichten müssen. Rund 80 Prozent sind heute auch nicht mehr bereit dazu.
DocCheck: Die Bundesregierung arbeitet ebenfalls an Strategien zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ihre Einschätzung? Stanslowski: Der Anspruch auf einen Krippen- oder Kitaplatz wird dazu führen, dass Kommunen bis zu einem gewissen Zeitpunkt Infrastrukturen aufbauen müssen, allein schon aufgrund des Rechtsanspruchs. Reden wir über Standorte wie München: Für Ärztinnen ist es nicht eine Frage des Geldes, Betreuungsplätze zu bekommen. Es gibt kaum Angebote. Eigeninitiative wird trotzdem unentbehrlich bleiben, wir brauchen passgenaue Angebote für die Mitarbeiter. Für unser spezielles Gebiet, nämlich Akutkrankenhäuser, wird es momentan keine politische Lösung geben. Herr Stanslowski, vielen Dank für das Gespräch!