6,3 Mio. Packungen starker Schmerzmittel wurden im Jahr 2011 abgegeben. Werden die Deutschen allesamt opioidsüchtig oder steckt eine verbesserte Behandlung von Schmerzpatienten dahinter?
Nach Informationen der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände ABDA gaben im Jahr 2011 die Apotheken 6,3 Millionen Packungen starke Schmerzmittel an gesetzlich versicherte Patienten ab. Das ist eine Steigerung von etwa 50 % in den letzten sechs Jahren. Die Zahlen sind imposant. Doch was bedeuten sie genau? Haben immer mehr Deutsche starke Schmerzen? Oder nehmen sie die Medikamente länger ein? Werden immer mehr Deutsche opioidsüchtig? Rein epidemiologisch betrachtet sind die Zahlen für chronische Schmerzpatienten in allen Ländern Europas mit 17 bis 23 % auf gleichbleibendem Niveau hoch. Die gestiegenen Zahlen – von 1 Mio. GKV-Patienten im Jahr 2005 auf 1,2 Mio. im Jahr 2009 – deuten darauf hin, dass sich die Diagnostik von Schmerzen und das Verständnis als eigenes Krankheitsbild geändert haben. Sicherlich gab es in der Vergangenheit und gibt es in Deutschland noch immer, eine Unterversorgung von Patienten, die eine vernünftige Schmerztherapie benötigen. Das sind Patienten, die nach dem WHO-Stufenschema für die Schmerztherapie mit Medikamenten der Stufe 3, also stark wirksamen Opioiden oder Nicht-Opioid-Analgetika, behandelt werden müssen. Alles besser geworden? Hierbei handelt es sich oftmals – aber nicht ausschließlich - um onkologische oder Palliativpatienten. Insofern scheinen die Zahlen der Apothekerverbände zu zeigen, dass vieles richtig gemacht wird und Patienten mit chronischen Schmerzen besser und zufriedenstellender behandelt werden. Diesen Trend sieht auch Dr. med. Gerhard H. H. Müller-Schwefe, Leiter des Schmerz- und Palliativzentrums Göppingen und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie: "Mich überrascht die Entwicklung nicht, weil sich die Diagnose und das Verständnis von chronischem Schmerz als wichtigem zu behandelndem Krankheitsbild verbessert hat. Immer mehr Ärzte haben bessere Kenntnisse über Chronifizierungsmechanismen und die Notwendigkeit einer frühen Intervention. Daraus ergibt sich auch ein geändertes Verordnungsverhalten". In die Gruppe, die mit starken Analgetika behandelt werden muss, fallen unter anderem Patienten mit neuropathischen Schmerzen oder Rückenschmerzpatienten. Kontinuierlich zugenommen hat aber auch die durchschnittliche Menge an Packungen pro Patient. Zurückzuführen sei das, so Dr. Müller-Schwefe, auf mehr Folgeverordnungen. "In der Vergangenheit gab es unter den Ärzten Vorbehalte, die Patienten ordentlich einzustellen. Daher wurde die niedrigste, mögliche Dosis verordnet und die oft nur einmalig". Über die Etablierung von Schmerztagebüchern und Schmerzskalen ist auch in der Ärzteschaft das Verständnis für die Wichtigkeit einer guten Einstellung auf die Medikamente und eine länger andauernde Therapie gewachsen. "Nun werden Patienten mit chronischen Schmerzen kontinuierlich behandelt und bekommen auch die notwendigen Folgeverordnungen", so Müller-Schwefe. Pflaster kleben ist zu einfach Diese positive Entwicklung bestätigt auch Prof. Dr. rer. nat. Gerd Glaeske vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen, er sieht aber gleichzeitig eine problematische Entwicklung. Nach seinen Untersuchungen werden Rückenschmerzen oder Osteoporoseschmerzen inzwischen häufig als Ersttherapie mit starken Schmerzmitteln behandelt, was bei Opioid-naiven Patienten zu einer Über- und Fehlversorgung führen kann. Hier seien oftmals leichtere Medikamente - wie z.B. Ibuprofen - ausreichend wirksam. Der übermäßige Einsatz von starken Analgetika hat, so warnt die Arzneimittelkommission der Ärzteschaft, mitunter schwerwiegende unerwünschte Wirkungen wie Atemdepression zur Folge oder kann zu Überdosierungen führen. Prof. Glaeske beobachtet, dass in 60 bis 70 % der Verordnungen von Pflastern mit dem Wirkstoff Fentanyl gleich die höchste Dosierung gegeben wird. "Die Einfachheit der Therapie mit Pflastern – verordnen, auftragen, fertig – scheint Ärzte dazu zu verführen, sie schneller zu verordnen", so Glaeske. Bedenklich ist in diesem Zusammenhang auch, dass die meisten Verordnungen starker Schmerzmittel, nämlich 56 %, von Allgemeinmedizinern vorgenommen werden. Bei Allgemeinmedizinern steht die Schmerztherapie im Verhältnis zu den zahlreichen anderen Symptomen, die jeden Tag in der Praxis auftauchen, nicht im Vordergrund. Daher fordert Prof. Glaeske eine Absprache zwischen behandelnden Allgemeinmedizinern und speziell ausgebildeten Schmerztherapeuten, die in der Behandlung chronischer Schmerzen viel Erfahrung haben. Günstig wäre es auch, die Einstellung direkt bei Schmerztherapeuten durchführen zu lassen, die Weiterbehandlung kann dann ein Allgemeinmediziner vornehmen. Das Missbrauchs- und Abhängigkeitspotential bei einer Dauertherapie mit schweren Schmerzmitteln sehen beide Experten für nicht entscheidend an. "Es gibt sicherlich auch einen geringen Prozentsatz von Fehlgebrauch, doch durch den überwiegenden Einsatz von retardierten Substanzen in Form von Retard-Tabletten oder Pflastern gibt es keine schnellen Konzentrationsanstiege, wie sie Abhängige benötigen, um durch die relative Überdosierung eine euphorisierende Wirkung zu erzielen", erklärt Dr. Müller-Schwefe. Zudem sei es nicht vertretbar, Patienten mit chronischen Schmerzen aufgrund der geringen Möglichkeit einer Abhängigkeit eine adäquate Schmerztherapie vorzuenthalten, wie Prof. Glaeske ergänzt. Selbstmedikation ist ein großes Problem Ein viel größeres Problem, auch hier sind sich die beiden Experten einig, besteht in der großen Menge an Schmerzmitteln, die in der Selbstmedikation eingenommen werden. Von den jährlich verkauften 150 Mio. Packungen an Schmerzmitteln, entfallen 120 Mio. auf die Selbstmedikation. Das bedeutet, dass die Schmerztherapie - mengenmäßig betrachtet - überwiegend nicht unter ärztlicher Kontrolle stattfindet. Die Daten der Apothekerverbände müssen daher auch in diesem Punkt differenziert betrachtet werden. Mit ziemlicher Sicherheit gibt es einen beträchtlichen Prozentsatz von Patienten mit chronischen Schmerzen, die aufgrund einer schlechten Einstellung unterversorgt sind und zusätzlich dauerhaft zu frei verkäuflichen Präparaten greifen. "Die frei verkäuflichen Analgetika sind aber keineswegs Lutschbonbons, sondern haben, dauerhaft angewendet, schwere toxische Wirkungen. Die Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie hält sie für wesentlich gefährlicher als Opiate, weil sie in willkürlicher Dosierung und Zusammensetzung eingenommen werden", erklärt Dr. Müller-Schwefe. Jedes Jahr sterben beispielsweise 2.000 – 3.000 Menschen an Magenblutungen durch Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) – die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen. Dosierung reduzieren Obwohl der medikamentösen Schmerztherapie bei chronischen Schmerzen eine zentrale Rolle zukommt, darf nicht vergessen werden, dass sich die Behandlung aus einem komplexen Konzept an Maßnahmen zusammensetzt. Dabei soll die Störung von Bewegungseinschränkungen ebenso verbessert werden, wie die Aktivität insgesamt, Depressionen und die soziale Einbettung der Patienten. Doch die medikamentöse Therapie schafft häufig erst die nötigen Voraussetzungen, damit ein Patient Kraft- und Ausdauertraining und Verhaltenstherapie durchführen sowie Schmerzkontrollmechanismen erlernen kann. Langfristig wird immer versucht, die Dosierung der Medikamente zu verringern oder diese möglicherweise sogar ganz abzusetzen. Von den gesteigerten Verordnungen profitiert natürlich auch die Pharmaindustrie. "Die Schmerztherapie ist mit den vorhandenen Präparaten aber gut umzusetzen. Wir stellen fest, dass die neuen Arzneimittel der letzten ein bis zwei Jahre keinen Zusatznutzen für die Patienten bringen. Dafür sind sie häufig um ein Vielfaches teurer", erklärt Prof. Glaeske die Veränderungen im Medikamentenregal. Dr. Müller-Schwefe erklärt jedoch, dass es gerade für neuropathische Schmerzpatienten dringend Neuerungen bräuchte, weil bei der Behandlung mit einzelnen Substanzen keine ausreichende Wirkung erzielt werden könne und immer Kombinationen von Medikamenten notwendig seien. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die stark gestiegene Zahl von Schmerzmittelverordnungen sowohl positive, als auch negative Aspekte hat. Sofern Patienten mit chronischen Schmerzen eine verbesserte, angepasste Behandlung mit starken Schmerzmitteln erhalten, ist das als gut zu werten. Doch sollte nicht aus den Augen gelassen werden, dass Übertherapien und Fehlversorgung vermieden werden müssen und viele Patienten auch mit schwächer wirkenden Präparaten zurechtkommen könnten.