Von Apothekern verteufelt, von Kunden geschätzt, blühen Versandapotheken schon lange nicht mehr im Verborgenen. Wirtschaftsforscher sagen ihnen eine glänzende Zukunft voraus, vor allem im OTC-Segment. Öffentliche Apotheken werden jedoch kaum an Bedeutung verlieren, sollten sie ihre Stärken konsequent ausspielen.
Deutschland im Jahr 2004: Die Bundesregierung erlässt ein höchst umstrittenes Regelwerk, das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Ab sofort dürfen Rx-Präparate und OTCs verschickt werden. Vier Jahre später spricht sich das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig für „Pick-ups“ in Drogeriemärkten aus. Die Weichen sind gestellt. Gute Beratung, guter Preis Um zu erfahren, welche Aspekte Kunden in diesem Segment wichtig sind, befragte das Marktforschungsinstitut Nielsen 6.000 Haushalte. Vor die Wahl gestellt, entschieden sich ein Drittel aller Verbraucher für Angebote mit guter Beratung, gefolgt von günstigen Preisen (21 Prozent) und langjährig guter Erfahrung (16 Prozent). Allerdings hängen Wünsche der Apothekenkunden stark vom Alter ab. Junge Patienten benötigen Arzneistoffe meist bei akuten Erkrankungen – sowohl OTCs als auch Rx-Medikamente. Dieser Bedarf ist nicht planbar, und Kunden nutzen häufig Apotheken vor Ort. Auch basieren viele Verkäufe auf Empfehlungen des Apothekers. Dem gegenüber stehen Tendenzen, die Versandapotheken ein starkes Wachstum bescheren. Immer mehr Menschen nutzen das Internet ganz selbstverständlich für viele Aufgaben des täglichen Lebens. Durch Smartphones und Tablet-Computer sind sie sprichwörtlich 24 Stunden am Tag online. Momentan dominiert bei Online-Arzneimittelkäufen die Altersgruppe 40 bis 49. Ihnen schließen sich mehr und mehr Senioren an, bekannt als „Silver Surfers“. Gefragt sind bekannte Marken – möglichst günstig. Ein Blick auf Zahlen zeigt, wohin die Reise gehen könnte. Ungebremstes Wachstum im OTC-Bereich Vor allem OTCs gelten als interessiert, da keine Preisbindung besteht. Für dieses Segment versuchte Nielsen, anhand verschiedener Szenarien künftige Umsätze zu simulieren. Ökonomen erwarten bis zum Jahr 2015 ein Wachstum von 65,6 Prozent und bis 2020 ein Plus von 110,1 Prozent, jeweils bezogen auf 2010. Als wichtigste Einflussfaktoren führt die Untersuchung vor allem steigende Preisvorteile an, gefolgt vom leicht wachsenden Anteil des Onlinehandels insgesamt. Entsprechende Annahmen decken sich mit der bisherigen Entwicklung des OTC-Umsatzes im Versandhandel. Waren es 2008 noch 384 Millionen Euro, so stieg der Wert bis 2011 auf 600 Millionen Euro. Im Jahr 2015 könnten es laut Extrapolation bereits knapp 900 Millionen Euro und im Jahr 2020 sogar 1,1 Milliarden Euro sein. Zum Vergleich: Bei öffentlichen Apotheken sank der Umsatz im OTC-Bereich von 5,0 Milliarden Euro (2005) auf 4,3 Milliarden Euro (2011). Unter ferner liefen Der große Unterschied: Während Online-Anbieter auf preisgünstige OTCs setzen, schwindet nach gesetzlichen Entscheidungen ihr Interesse an Kassenrezepten. Nur zwei Prozent des Umsatzes gehen auf Rx-Präparate zurück. Längst greift die AMG-Novelle, und Rx-Rabatte sind passé. Beispielsweise hat DocMorris versucht, trotzdem 15 Euro als Vergütung für vermeintliche Arzneimittelchecks auszuloben. Das Kölner Landgericht schloss dieses Schlupfloch umgehend – und drohte ein Ordnungsgeld von bis zu 250.000 Euro an. Damit werden Verschreibungen aus Kundensicht an Attraktivität verlieren, es sei denn, es kommt zum Mitnahmeeffekt. Wer ohnehin OTCs bestellt, löst auch gern das Rezept mit ein. Zum Vergleich: Bei öffentlichen Apotheken sind verschreibungspflichtige Arzneimittel mit 79,5 Prozent des Gesamtumsatzes eine tragende Säule, und 10,5 Prozent gehen auf das Konto apothekenpflichtiger Arzneimittel. „Kunden gut beraten und an die Apotheke binden“ Und die Konsequenz für Kollegen vor Ort? DocCheck sprach mit Dr. Peter Sandmann. Zusammen mit seiner Frau besitzt er sieben Apotheken in München. Der Inhaber bewertet Versender langfristig nicht als ernste Konkurrenz. „Es gibt einige Produkte wie Großpackungen mancher OTCs, die sind bereits abgewandert. Das lässt sich aber kompensieren.“ Seine Strategie: „Natürlich können Apotheker, vor allem mit mehreren Filialen, auch in gewissem Rahmen preisaktiv sein, um Kunden mit der typischen Schnäppchenmentalität zu erreichen. Das wird nicht bei allen Produkten funktionieren, aber doch bei ausgewählten OTCs.“ Ansonsten rät er Kollegen, sich auf eigene Stärken zu besinnen. „Den meisten Patienten, auch chronisch Kranken, ist der Kontakt zu ihrer Apotheke vor Ort wichtig. Wir müssen unsere Kunden gut beraten und so an die Apotheke zu binden. Wir sind im wörtlichen Sinne einfach viel näher am Kunden.“ Seine Prognose für die nächsten Jahre: „Ich bin mir sicher, der Versandhandel wird bleiben, aber er wird sich weniger rasant entwickeln.“ Vorteile im Rx-Bereich seien mittlerweile marginal, respektive gar nicht mehr vorhanden. Auch Plattformen wie Dedendo werden Versandapotheken weiter schwächen. Man bestellt Präparate zwar online. Allerdings liefern regionale Partnerapotheken bis an die Haustür – eine Möglichkeit, weiter entfernte Kunden zu erreichen. „Abhängigkeit vom Rezept“ Konstantin Primbas, Inhaber der APONEO Deutsche Versand-Apotheke, Berlin, hält den lokal begrenzten Aktionsradius für ein großes Problem öffentlicher Apotheken vor Ort. „Viele Menschen beginnen zu vergleichen – und dann kommt unser Preisvorteil zum Tragen.“ Versender hätten auch den großen Vorteil, hinsichtlich ihres Sortiments deutlich breiter aufgestellt zu sein – das Spektrum umfasst bis zu 200.000 Artikel. „Für die Apotheken vor Ort sehe ich durch die Abhängigkeit vom Rezept relativ schwarz“, sagt Primbas. Momentan seien sie durch ihre „just in time“-Versorgung bei Akuterkrankungen deutlich im Vorteil. „Früher oder später werden wir auch in Deutschland „Same Day“-Lieferungen anbieten können, sollte das elektronische Rezept kommen. Bestelle heute Vormittag – das Paket kommt heute Abend.“ Deshalb sollten Strategien regionaler Apotheken langfristig weg vom Kassenrezept führen, meint Primbas. „Potenziale sehe ich zum Beispiel in Vorsorgeleistungen, aber auch in engeren Kontakten zum Arzt. Bis das funktioniert, muss viel geändert werden, angefangen beim Studium bis hin zu der späteren, aktuell nicht spannungsfreien Zusammenarbeit verschiedener Heilberufe.“ Harte Konkurrenz Doch auch Versandapotheken haben ihre Last zu tragen. Bis Ende 2011 erhielten rund 3.000 Apotheken eine Versandhandelserlaubnis für Deutschland. Primbas schätzt, dass sich gerade einmal 25 bis 30 Versender rund 95 Prozent des Kuchens teilen. „Der Verdrängungswettbewerb ist enorm. Viele Apotheker haben Angst vor der Zukunft und versuchen, die Versandkarte als letzte Rettung auszuspielen. Sie sparen sich tot, unterschätzen Kosten, und nur wenige schreiben schwarze Zahlen.“ In den USA, wo der Versand mit Arzneimitteln bereits seit 1946 legitim ist, stagnieren Umsatzanteile bei weniger als 20 Prozent. „Das wird auch in Deutschland ein Maximalwert sein“, schätzt Primbas. „Momentan bewegen wir uns bei rund zehn Prozent.“ Kommando zurück Noch ein Blick auf die Staaten. Amerikanische Versicherungen verpflichten Patienten teilweise, ihre Rezepte bei einem bestimmten Versender einzulösen. Wer seine Rx-Präparate vor Ort abholt, riskiert hohe Eigenbeteiligungen. Zumindest in New York hat die Regierung gegengesteuert: Senator Andrew Cuomo unterzeichnete ein Gesetz, das Patienten garantiert, ihre Apotheke frei zu wählen.