Ethanol ist und bleibt Volksdroge Nummer eins, verbunden mit einer hohen Morbidität und Mortalität. Ärzte können Patienten mit neuen Strategien helfen, Wege aus ihrer Sucht zu finden – oder den Konsum wenigstens zu verringern.
Deutschland einig Trinkerland: Experten schätzen, dass derzeit 1,3 Millionen Menschen akut alkoholabhängig sind. Bei weiteren acht Millionen Menschen gehen Ärzte von einem kritischen Konsumverhalten aus, darunter sind 160.000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Jahr für Jahr sterben rund 40.000 Menschen an direkten oder indirekten Folgen ihrer Abhängigkeit – meist noch vor dem 60. Lebensjahr. Viele rutschen in die Sucht ab, ohne es bewusst wahrzunehmen.
Erfolgreich, wohlhabend, alkoholabhängig?
Privatdozent Dr. Udo Schneider und Dr. Brit Schneider untersuchten Einflussfaktoren im Detail. Mit Daten des sozio-oekonomischen Panels (SOEP) , einer repräsentative Wiederholungsbefragung, kamen sie zu interessanten Erkenntnissen: Je höher Bildungsstand und Einkommen, desto größer ist das Risiko, regelmäßig Alkohol zu konsumieren – bei Frauen sowie bei Männern. Udo Schneider schließt Informationsdefizite aus, vielmehr seien Bier und Wein gesellschaftlich akzeptiert. Generell von Alkoholabhängigkeit zu sprechen, wäre falsch. Betrachtungen des US-amerikanischen Forschers Elvin Morton Jellinek (1890-1963) zeigen, dass dieses Verhalten zum sogenannten Beta-Typus führen kann: Betroffene trinken bei gesellschaftlichen Anlässen, bleiben ansonsten jedoch unauffällig. Vor gesundheitlichen Folgen sind auch sie nicht gefeit.
Tödliche Getränke
Professor Dr. Ulrich John, Greifswald, beschäftigte sich speziell mit der Mortalität von Alkoholabhängigen. Er untersuchte 4.070 Menschen zwischen 18 und 64 Jahren - und fand promt 153 Patienten mit entsprechendem Suchtverhalten. Nach 14 Jahren kamen 149 dieser Patienten zum Follow-up. John fand bei alkoholabhängigen Frauen eine um den Faktor 4,6 erhöhte Mortalität, bei Männern war der Wert 1,9-fach erhöht. Erstaunlich: Patienten, die sich wegen ihrer Suchterkrankung in stationäre Behandlung begaben hatten, profitierten hinsichtlich ihrer Lebenserwartung nicht. Ausgehend von dieser Erkenntnis fordert Ulrich John jetzt, Frauen stärker als bisher in den Fokus zu rücken und Therapieprogramme kritisch zu überdenken.
Komplexe Biologie
Die Abhängigkeit selbst beruht auf molekularen Effekten. Ethanol hemmt NMDA-Rezeptoren und stimuliert GABA-A-Rezeptoren, was entspannende und angstlösende Effekte erklärt. Schließlich kommt es zur Adaptation, und Patienten konsumieren immer größere Mengen, um den gleichen Effekt zu erzielen. Beim Entzug fehlt plötzlich die Kontrolle entsprechender Bindungsstellen. Es kommt zu teils lebensgefährlichen Symptomen wie Krampfanfällen, Angstzuständen, Tachykardie und Tremor – bekannt als Delirium tremens. Unbehandelt würde bis zu einem Drittel aller Patienten an diesen Symptomen versterben. Entgiftungen finden deshalb meist stationär statt, mit medikamentöser Unterstützung durch Haloperidol, Benzodiazepine, Clomethiazol und Clonidin. Ist der erste Schritt getan, müssen Patienten langfristig stabilisiert werden.
Stoppt den Durst
Als Ergänzung zu Verhaltenstherapien und Selbsthilfegruppen verringern Anti-Craving-Substanzen das Verlangen nach Hochprozentigen. Neben bekannten Pharmaka wie Acamprosat, Disulfiram (mittlerweile in Deutschland nicht mehr verfügbar) oder Naltrexon hat in den letzten Jahren ein weiterer Arzneistoff für Furore gesorgt. Das Interesse vieler Medien an Baclofen ist untrennbar mit einem Namen verbunden: Dr. Olivier Ameisen, Kardiologe aus Frankreich. Er besiegte seine Alkoholabhängigkeit mit hohen Dosen dieses Muskelrelaxans. Nach anfänglichen Zweifeln – ging es ihm vielleicht doch nur um Publicity – brachte die Wissenschaft Licht ins Dunkel. Eine retrospektive Studie mit 181 Patienten, von denen 132 am Ende auswertbare Daten lieferten, bescheinigte Baclofen gute Erfolge. Zu Beginn lag der Alkoholkonsum bei 182 ± 92 Gramm pro Tag. Nach einem Jahr waren 78 Personen abstinent, weitere 28 hatten ihren Konsum deutlich verringert. Alle Studienteilnehmer hatten 129 ± 71 Milligramm des Wirkstoffs pro Tag erhalten. Daraufhin gab die französische Arzneimittelbehörde ANSM (Agence nationale de sécurité du médicament et des produits de santé) grünes Licht, Baclofen „von Fall zu Fall“ einzusetzen.
Erfolg mit dem Kuschelhormon
Auch Oxytocin hat interessante Eigenschaften. Normalerweise als "Kuschelhormon" und als Auslöser von Wehen bekannt, profitieren Suchtpatienten ebenfalls von diesem Neuropeptid. Forscher verabreichten bei einer randomisierten, doppelt verblindeten Studie sieben Patienten Oxytocin, während vier Patienten Placebo erhielten. Alle Teilnehmer hatten zu Beginn viel Alkohol konsumiert und beim Versuch, von ihrer Sucht loszukommen, über starke Entzugssymptome geklagt. Unter Verum benötigten die Betroffenen kein beziehungsweise weniger Lorazepam als Personen im Placebo-Arm. Weitere Arbeiten müssen folgen, um den langfristigen Wert des Peptidhormons zu bewerten.
Weniger ist mehr
Nicht immer gelingt es, Patienten in die Abstinenz zu führen. Therapeuten versuchen alternativ, den Alkoholkonsum wenigstens zu verringern. Hier kommt der Opioid-Rezeptor-Antagonist Nalmefen zum Einsatz. Patienten sollten den Arzneistoff einnehmen, bevor sie zur Flasche greifen – um ihren Konsum zu verringern. Für Nalmefen liegen Ergebnisse aus diversen Phase-III-Studien vor. Die Teilnehmer haben vor Studienbeginn mehr als sechs "heavy drinking days" (HDD) mit täglich mindestens 60 Gramm Ethanol (Männer) beziehungsweise 40 Gramm Ethanol (Frauen) zu Protokoll. Parallel zur Psychotherapie erhielten sie Nalmefen oder Placebo. Nach einem Jahr hatte sich der Konsum unter Verum signifikant um bis zu 60 Prozent verringert. Daraufhin sprach sich die Europäische Arzneimittelagentur EMA für eine Zulassung aus. Zielgruppe sind Patienten mit hohem Alkoholkonsum, bei denen keine Entgiftung möglich ist. Ihnen könnte bereits Mitte 2013 Nalmefen verordnet werden.
Unpopuläre Maßnahmen
Jenseits von Medizin und Pharmazie bleiben noch gesetzliche Eingriffe zu bewerten. Kollegen des Zentrums für Suchtforschung in British Columbia ermittelten, dass Preise für alkoholische Getränke eine zentrale Rolle spielen. Von 2002 bis 2009 verteuerten kanadische Politiker alkoholische Getränke um zehn Prozent, indem sie Mindestpreise einführten. Und siehe da – zeitgleich sank die alkoholassoziierte Mortalität um 32 Prozent. Selbst starke Trinker ohne jegliche Behandlung schränkten ihren Konsum ein.
Als der Staat sein Monopol, Hochprozentiges nur in eigenen Geschäften zu verkaufen, schließlich fallen ließ, entstanden zusätzlich private Verkaufsstellen. Prompt stieg die Mortalität wieder um zwei Prozent an. Entsprechende Zahlen belegen, dass bei Maßnahmen gegen Alkoholabhängigkeit Medizin, Pharmazie und Politik an einem Strang ziehen müssen.