Mustererkennungs-Algorithmen machen es möglich: Forscher kombinierten individuelle Hirnläsionen und Fähigkeitsverluste von Schlaganfallpatienten mit Aufmerksamkeitsstörungen derart, dass sie nun Prognosen über deren Regeneration treffen können.
"Mit welchen Beeinträchtigungen werde ich in Zukunft leben müssen?" Diese Frage hören Ärzte, die Schlaganfallpatienten behandeln, täglich. Sichere Prognosen zu treffen, ist jedoch auch bei langjähriger Behandlungserfahrung unmöglich. Generell gilt: Je jünger die Patienten sind und je geringer die durch den Schlaganfall verursachten Beeinträchtigungen sind, umso größer sind die Chancen, dass sich die eingetretenen Behinderungen zumindest teilweise wieder zurückbilden. Eine schwammige Aussage, die weder für die Betroffenen und ihre Angehörigen, noch für die behandelnden Ärzte zufriedenstellend ist. Oft mehrere Hirnbereiche geschädigt Von Patienten mit einem akuten Schlaganfall werden zunächst routinemäßig CT- oder MRT-Aufnahmen des Gehirns angefertigt. Durch funktionelle Tests können die behandelnden Ärzte zwar dann die beschädigten Hirnstrukturen mit den verloren gegangenen Fähigkeiten in Verbindung bringen. Doch das alleine reicht nicht aus, um ein bestimmtes Areal einer Funktion sicher zuordnen zu können. "Bei einem Schlaganfall fallen Hirnareale nicht als ganze Module aus", erklärt Prof. Dr. Dr. Hans-Otto Karnath vom Zentrum für Neurologie des Universitätsklinikums Tübingen. "Ein Schlaganfall kann zu einer Schädigung großer Hirnbereiche führen, die viele Fähigkeiten umfassen. Wo genau sich nun das Areal, das beispielsweise dazu benötigt wird, aufmerksam zu sein, sitzt, wussten wir bisher noch nicht." Mustererkennungs-Algorithmen helfen Aufmerksam sein zu können ist keine automatische Gabe, sondern eine aktive Leistung des Gehirns. Wissenschaftlern um Prof. Karnath, vom Tübinger Zentrum für Neurologie sowie Forschern aus den USA ist es nun in einer gemeinsamen Untersuchung von Schlaganfallpatienten gelungen, das Hirnnetzwerk sichtbar zu machen, das die Aufmerksamkeit eines Menschen ausmacht. Hierzu benutzten sie eine neue Methode, die eigentlich für das selbständige Lernen von Robotern und anderen Maschinen entwickelt wurde. Multivariate pattern analysis (MVPA) ist der Name der Methode, welche ermöglicht, dass Roboter nicht einfach nur stur etwas auswendig lernen, sondern selbstständig Gesetzmäßigkeiten "erkennen". Um neue Erkenntnisse für das Verständnis von Hirnfunktionen beim Menschen zu gewinnen, fütterten die Wissenschaftler ihr Computernetzwerk mit den CT- und MRT-Bildern von etwa 50 Patienten, die einen Schlaganfall erlitten hatten. Einige von ihnen litten unter Störungen der Aufmerksamkeit, andere dagegen nicht. Die von den Wissenschaftlern eingesetzten Algorithmen suchten nun danach, ob sich in dieser großen und verwirrend unterschiedlichen Ansammlung von individuellen Hirnschädigungen ein typisches Muster "erkennen" lässt, das immer dann vorliegt, wenn es zu einer Störung der Aufmerksamkeit kommt. Wonach dabei gesucht werden sollte, gaben die Forscher den Computern nicht vor; diese kombinierten monatelang alle möglichen Varianten und beurteilten selbstständig, ob es etwas Regelhaftes zu "erkennen" gab. In der rechten Gehirnhälfte wurden die Forscher schließlich fündig und konnten dort das Hirnnetzwerk sichtbar machen, das immer wieder mit geschädigt war, wenn Schlaganfallpatienten unter Aufmerksamkeitsstörungen litten. Dieses Areal verleiht dem Menschen offenbar die Fähigkeit, aufmerksam sein zu können. Prognosen über Krankheitsverlauf Mit diesem Verfahren versuchen die Wissenschaftler nun auch Prognosen über den Krankheitsverlauf von Schlaganfallpatienten zu treffen. "Mit Hilfe unseres Verfahrens können wir vorhersagen, wie wahrscheinlich es ist, dass es zu einem chronischen Ausfall der gestörten Funktion kommt", so Karnath. Dazu vergleichen die Kollegen um Prof. Karnath MRT- bzw. CT-Aufnahmen und Funktionstests ihrer Schlaganfallpatienten bei der Einlieferung ins Krankenhaus mit denselben Daten ein Jahr nach dem Schlaganfall. Dabei stießen die Forscher auf das typische Läsionsmuster, das mit einer anhaltend schlechten Aufmerksamkeitsleistung einhergeht. Der Vergleich mit den MRT- bzw. CT-Aufnahmen und den Fähigkeiten der Patienten ein Jahr nach dem Schlagfall lieferte den Muster-Erkennungsalgorithmen ausreichend Daten, um in Zukunft der Patienten blicken zu können: "Wir können nun bereits bei neu eingelieferten Schlaganfallpatienten durch die Analyse des Röntgenbildes eine Aussage treffen, ob sich seine Defizite wahrscheinlich wieder zurückbilden werden oder nicht", so Karnath. Wie verlässlich eine derartige Vorhersage sein wird, prüfen die Wissenschaftler momentan in einer zweiten Studie. Darin konzentrieren sie sich auf die zuvor entdeckte "Aufmerksamkeitsregion" in der rechten Gehirnhälfte. "An neuen Patienten prüfen wir, wie gut unsere Vorhersagen über einen chronischen Verlauf eines Funktionsausfalls mit den neuen Patientendaten korrelieren", erklärt Prof. Karnath die Folgestudie. "Wenn die Korrelationen hoch sind, dann kennen wir die Hirnregionen, die auf keinen Fall geschädigt sein dürfen, damit es nicht zu einer chronischen Entwicklung einer Aufmerksamkeitsstörung kommt", so Karnath. In zwei Jahren wird die Verlässlichkeit der neuen Vorhersagemethode abschließend überprüft sein. Noch ausbaufähig Der erfolgreiche Ansatz ließe sich ausweiten: "Unsere Methode ist natürlich nicht nur auf Aufmerksamkeitsstörungen beschränkt", so Karnath. "Sie lässt sich auf sämtliche Funktionsausfälle nach einem Schlaganfall anwenden." In Zukunft wollen sich Karnath und sein Team auch anderen höheren Hirnleistungen widmen. Prof. Karnath sieht gleich mehrere Vorteile für Schlaganfallpatienten und deren Angehörige durch die neuartige Anwendung von Mustererkennungsalgorithmen: "Erstens sind individuelle Verläufe von Aufmerksamkeitsstörungen frühzeitig und besser vorhersagbar. Zweitens kann so für jeden Patienten frühzeitig die für ihn richtige Therapie ausfindig gemacht werden und damit die Prognose evtl. sogar noch beeinflusst werden."