Mal sind es Angststörungen und Alkohol, mal Schizophrenie und Cannabis – psychische Störungen und Suchtmittelmissbrauch treten oft gemeinsam auf. Betroffene haben eine hohe Stress-Sensibilität. Ihr Leiden ist vielleicht eine Konsequenz unserer Lebensumstände.
Wenn Dr. Sibylle Hornung-Knobel über ihre Patienten spricht, denkt man spontan, dass ein Unglück eben selten allein kommt. "Typisch ist der Fall eines Mannes, der als Alkoholabhängiger aktenkundig war", sagt Hornung-Knobel. "Eines Tages lieferte ihn die Polizei bei uns ein, und wir stellten fest, dass er halluzinierte. Er war nicht nur suchtkrank, sondern auch schizophren."
Hornung-Knobel leitet die Station für Psychose und Sucht am Klinikum München-Ost und betreut viele solcher Patienten. Bei manchen sind die psychischen Störungen substanzinduziert, also Folge des Alkohol- oder Drogenkonsums. Bei anderen wurden sie unabhängig von der Sucht ausgelöst oder waren schon vor dem Substanzkonsum da und bleiben auch unter abstinenten Bedingungen weiter bestehen. In so einem Fall sprechen Psychiater heute von Komorbidität oder Doppeldiagnose (englisch: comorbidity bzw. dual diagnosis). Eine Ausnahmeerscheinung? Offenbar nicht.
Eher die Regel als die Ausnahme
Rund 80 Prozent der Patienten mit diagnostizierter Drogenabhängigkeit leiden zusätzlich unter psychiatrischen Störungen. "Das können Schizophrenien sein, Depressionen, Angst- und Persönlichkeitsstörungen, Zwänge, aber auch ADHS oder posttraumatische Belastungsstörungen", so Hornung-Knobel. Umgekehrt haben 30 bis 50 Prozent aller psychiatrisch behandelten Patienten neben der psychischen Erkrankung auch eine Substanzstörung. "Sie sind abhängig von Alkohol, Sedativa, Cannabis, Stimulanzien oder anderen Drogen."
Für dieses häufige, gemeinsame Auftreten von Psychosen und Süchten gibt es mehrere Erklärungsmodelle. "Zum einen könnten bestimmte Risikofaktoren das Entstehen einer psychischen Erkrankung und zugleich einer Sucht begünstigen", erläutert Hornung-Knobel. In Frage kommen beispielsweise Ungleichgewichte im zentralen Transmittersystem aber auch antisoziale Persönlichkeitsstörungen.
Ein weiteres Modell besagt, dass eine Erkrankung als Folge der anderen entsteht, dann aber unabhängig davon persistieren kann. Davon ist bei der eingangs geschilderten Kasuistik auszugehen. "Der Patient hörte diese Stimmen, sie verfolgten ihn und machten ihm Angst", erinnert sich Hornung-Knobel. Irgendwann griff er zum Alkohol, um die Stimmen zurückzudrängen und sich letztlich selbst zu behandeln. "Die Suchterkrankung ist in diesem Fall aus der psychiatrischen Erkrankung hervorgegangen", kommentiert Hornung-Knobel. Umgekehrt könne Drogenmissbrauch auch eine Psychose anstoßen. "Zum Beispiel erhöht der Konsum von Crystal Meth und großen Mengen Cannabis das Risiko, unter bestimmten Bedingungen an einer Schizophrenie zu erkranken."
Gemeinsam ist vielen Betroffenen, dass sie eine besondere Sensibilität mitbringen, wie der Diplom-Psychologe Frieder Niestrat schreibt. Woher auch immer sie rührt, sie spielt in vielen ätiologischen Modellen eine zentrale Rolle. "Menschen mit Doppeldiagnosen haben eine höhere Vulnerabilität gegenüber Umwelteinflüssen und weniger Abwehrmöglichkeiten", bestätigt auch Hornung-Knobel. "Vermutlich ist es das, was sie dann unter Stress schneller zu Alkohol und Drogen greifen lässt und Wahnideen oder Halluzinationen fördert."
Schwierige Diagnose, komplexe Behandlung
Ebenfalls gemeinsam ist vielen Betroffenen, dass sie oft lange auf eine korrekte Diagnose warten müssen. "Psychiatrisch tätige Therapeuten und Suchtfachleute arbeiten in der Regel unabhängig voneinander und kennen sich in der jeweils anderen Indikation nicht ausreichend aus", erklärt Hornung-Knobel. Es sei dann schwer, hinter den offenkundigen Symptomen der einen Erkrankung auch die andere zu entdecken. "Wir testen die Patienten daher konsequent auf psychiatrische Erkrankungen und führen bei jedem ein Drogenscreening durch", so Hornung-Knobel. Zudem baue man auf Angaben aus der Fremdanamnese.
Auch in der Behandlung wirkte sich das Nebeneinander der Versorgungssysteme lange Zeit ungünstig aus. Patienten verschwanden in einer psychiatrischen Klinik oder einer Suchtstation, um dann nach einem Suchtmittelrückfall oder einer psychiatrischen Verschlimmerung im anderen System wieder aufzutauchen, schreibt Niestrat. Ein möglicher Grund für den Drehtüreffekt: Es wurde immer nur einer der beiden Problemkomplexe therapiert mit zum Teil gegensätzlichen Behandlungsansätzen und –zielen.
Hornung-Knobel zufolge ist es vor allem die Suchterkrankung, die Behandlungserfolge gefährdet. "Denn während man die Psychose oft gut und stabil medikamentös einstellen kann, muss man bezüglich der Sucht immer mit einem Rückfall rechnen." Und der setzt nicht selten eine Spirale in Gang.
"Viele Patienten nehmen dann ihre antipsychotischen Medikamente nicht mehr, sie werden neuerlich von Ängsten und Wahnvorstellungen geplagt und sind wegen des Drogenkonsums gleichzeitig enthemmt und gewaltbereiter", weiß Hornung-Knobel aus Erfahrung. Eine Melange, die es in sich hat. "Schizophrene Patienten mit gleichzeitiger Suchterkrankung begehen 18 Mal häufiger Gewaltdelikte als schizophrene Patienten ohne diese Komorbidität."
Jung und ohne Abschluss
Am aussichtsreichsten gilt daher ein integrativer Ansatz, wie er im Klinikum München-Ost angeboten wird. Darin werden beide Störungen als gleichwertig angesehen und gleichzeitig behandelt., "Wichtigste Elemente sind eine geeignete Pharmakotherapie sowie Schulungen, Motivations-, Bewältigungs- und Verhaltenstrainings", sagt Hornung-Knobel. So lernen Patienten, psychisch belastende Situationen zu vermeiden oder zu meistern, mit aufkeimendem Suchtdruck fertig zu werden und im Supermarkt am Flaschenregal vorbeizugehen ohne zuzugreifen.
Mittlerweile gibt es bundesweit einige Einrichtungen, die nach diesem Prinzip arbeiten. "Leider noch viel zu wenige", wie Hornung-Knobel betont. Erschwerend kommt hinzu, dass die Betroffenen immer jünger werden und mangels Schulabschluss und Berufsausbildung immer schwieriger zu resozialisieren sind.
"Jobs für gering Qualifizierte und Integrationsplätze sind Mangelware, stattdessen nehmen die Anforderungen und Belastungen zu", sagt Hornung-Knobel. "Gut möglich, dass Doppeldiagnosen die Kehrseite dieser gesellschaftlichen Entwicklung sind."