Mehr als die Hälfte aller Krebspatienten leiden unter einer bisher nicht therapierbaren Kachexie. Dass an dem massiven Verlust von Körperfett und Muskelmasse auch die Leber beteiligt sein könnte, war bisher unbekannt und könnte Ausgangspunkt neuer Therapieansätze sein.
"Bei den meisten Krebspatienten ist die Kalorienzufuhr eingeschränkt", erklärt Prof. Dr. Stephan Herzig, Leiter der Abteilung "Molekulare Stoffwechselkontrolle" am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. Dass Tumorpatienten weniger Kalorien als nötig aufnehmen, kann verschiedene Gründe haben: Laut Angaben der Deutschen Krebsgesellschaft leiden 40% der Krebspatienten unter einer Anorexie, 46% unter Geschmacksveränderungen, 60% unter Völlegefühl, 40–60% unter vorzeitigem Sättigungsgefühl, 41% unter Mundtrockenheit, 39% unter Übelkeit und 27% unter Erbrechen.
Doch die reduzierte Nahrungsaufnahme scheint offenbar nicht der einzige Grund zu sein, warum bis zu 70% aller Tumorpatienten unter einer Auszehrung oder auch Kachexie leiden. Denn selbst wenn man die Kalorienzufuhr dieser Patienten etwa durch künstliche Ernährung stabil hält, ist das Fortschreiten der Kachexie nicht aufhaltbar. "Offenbar gibt es einen Mechanismus im Körper, der unabhängig von der Nahrungsaufnahme zu einem Verlust von Körperfett und Muskelmasse führt", vermutet Prof. Herzig.
Extreme körperliche Auszehrung
Das klinische Hauptsymptom der Kachexie ist der Verlust von wenigstens 5% des nicht ödematösen Körpergewichts. Hinzu kommen Kraftverlust, Erschöpfung, Appetitlosigkeit und Abnahme der Muskelmasse. Besonders häufig und auch besonders stark betroffen sind Patienten mit Krebserkrankungen des Verdauungstrakts, der Lunge und der Bauchspeicheldrüse. Hier kann es zu einem Verlust von bis zu 80 Prozent des Körperfetts und der Skelettmuskelmasse kommen. Der Schwund der Muskulatur macht die Kranken schwach und immobil und verschlechtert das Ansprechen auf die Therapie. Geschätzte 20 bis 30 Prozent der Krebstodesfälle gelten als direkte Folge der Kachexie, häufige Todesursache ist ein Versagen der Atemmuskulatur.
Erst die Mischung machts
"Früher glaubten die Ärzte, dass der Krebs den Stoffwechsel so programmiert, dass alle Energie in das Tumorwachstum fließt", zitiert das Deutsche Krebsforschungszentrum seinen Mitarbeiter Prof. Dr. Stephan Herzig auf seiner Webseite. Heute sähen Wissenschaftler in der Kachexie eine Reaktion des Körpers auf verschiedene schädliche Stimuli, die direkt vom wachsenden Tumor ausgingen. "Unter Verdacht stehen beispielsweise Entzündungsmediatoren wie Cytokine", so Herzig. "Da aber das alleinige Blocken dieser Entzündungsmediatoren nicht ausreicht, um die Kachexie zu stoppen, gehen wir davon aus", so Herzig weiter, "dass eine Kombination aus möglicherweise Entzündungsmediatoren und/oder hormonähnlichen Substanzen im Zusammenspiel zwischen Tumor und Körper dafür sorgen, dass es in den Endorganen zu diesem extremen Energieverlust kommt."
Auch die Frage, ob hinter allen Kachexiefällen, wie sie bei Patienten mit verschiedenen Tumorarten oder aber auch bei HIV-Patienten auftreten, immer derselbe Mechanismus steht, ist nach wie vor nicht geklärt.
Die Leber mischt mit
Da Kachexie-Patienten oft auch unter einer entzündlichen Fettleber leiden, nahm das Forscherteam um Stephan Herzig dieses Organ – zunächst im Mausmodell - auf der Suche nach den Ursachen für die extreme körperliche Auszehrung genauer unter die Lupe. In krebskranken Mäusen fanden die Wissenschaftler einen extrem niedrigen Blutfettspiegel. Dieser resultierte daraus, dass die Leber der kranken Tiere nur noch sehr wenig VLDL (very low density lipoprotein) ausschüttete. VLDL ist ein Lipoprotein, also eine Fett-Eiweißverbindung, welches Fette im Blut transportiert. Das gelöste Fett im Blut stellt eine der wichtigsten Energiequellen des Körpers dar, die den krebskranken Mäusen offenbar abhanden gekommen war. Stattdessen hatten die Tiere Fett in der Leber eingelagert, das ihrem Körper jedoch als Energiequelle nicht zur Verfügung stand. Darüber hinaus sind in der Leber krebskranker Mäuse die Gene für alle wichtigen Schritte der Fettsynthese blockiert.
Zentraler Genschalter in der Leber
Herzig sieht darin einen deutlichen Hinweis, dass ein zentraler Genschalter in der Leber die Kachexie zumindest teilweise antreibt. Sein Forscherteam suchte daher bei krebskranken und gesunden Mäusen gezielt nach Unterschieden bei den Schalterproteinen (Transkriptionsfaktoren), die die Genaktivität und damit auch den Energiestoffwechsel der Leber steuern. Tatsächlich entdeckte Herzigs Team deutliche Differenzen beim bisher wenig erforschten Genschalter TSC22D4, der in der Leber krebskranker Mäuse in größerer Menge vorkommt als bei gesunden Artgenossen. Die Wissenschaftler um Prof. Herzig wiesen nach, wie wichtig die Rolle von TSC22D4 bei der Entstehung einer Kachexie ist: Die Forscher legten den Schalter spezifisch in der Leber der Tiere still. Daraufhin bildete das Organ wieder ausreichend VLDL, so dass der Blutfettspiegel der kranken Tiere anstieg. Außerdem wurden die an der Fettsynthese beteiligten Gene wieder angekurbelt.
"Bislang lag das Hauptaugenmerk bei Ursachensuche für Kachexie auf dem Muskel- und Fettgewebe, da diese beiden Körperteile am meisten von der Auszehrung betroffen sind", so Herzig. "Unsere Ergebnisse belegen zum ersten Mal, dass der dramatische Verlust an Körpermasse zentral von der Leber reguliert sein könnte. Inzwischen wissen wir außerdem, dass TSC22D4 in Leberzellen des Menschen genau die gleiche Wirkung hat."
Es gibt außerdem Hinweise darauf, dass sich der Genschalter über bestimmte Stoffwechselprodukte steuern lässt und so die fatale Auszehrung möglicherweise gebremst werden könnte. Dieser Ansatz ist allerdings experimentell noch nicht belegt, das wollen die Wissenschaftler vom DKFZ im nächsten Schritt untersuchen. Stephan Herzig resümiert: "Wenn wir verstehen, wie ein Faktor wie TSC22D4 reguliert wird, ergeben sich daraus eventuell Angriffspunkte für eine wirkungsvolle Kachexietherapie."