Spitzensport, Mord und Doping - diese Begriffe verbinden Medien zurzeit mit Oscar Pistorius. Die Boulevardpresse macht dabei eine einfache Gleichung auf: Testosteron gleich Aggression. Aber können Hormone alleine wirklich zum Mörder machen?
Am 14. Februar fanden Polizisten am Tatort des tragischen Todes von Reeva Steenkamp mehrere Ampullen unklaren Inhalts. Ersten Meldungen zufolge sollte es sich dabei angeblich um Testosteron handeln. Männerhormone und ungezügelte Gewalt - das bietet gerade jetzt, wo sexuelle Zudringlichkeiten im Fokus der Öffentlichkeit stehen, eine attraktive publizistische Mischung. Obwohl noch gar kein Ergebnis forensischer Untersuchungen vorlag, spekulierte zum Beispiel die Abendzeitung München: "Schoss Pistorius im Testosteron-Wahn?"
Kastriert und brav?
Da Testosteron die Blut-Hirn-Schranke passiert und Androgenrezeptoren sowohl bei Frauen als auch bei Männern im zentralen Nervensystem häufig zu finden sind, liegt ein Zusammenhang zwischen Hormon und Verhalten auf der Hand. Schon früh entdeckten Wissenschaftler, dass männliche Mäuse oder Ratten nach der Kastration friedlicher wurden. Postnatale Testosterongaben machten Tiere jedoch aggressiv. Aus dem Brutverhalten von Vogelarten wie der Singammer leiteten Verhaltensforscher schließlich die "Challenge"-Hypothese ab: Männliche Tiere werden während der Paarungszeit durch Testosteron aggressiver, um Konkurrenten in Schach zu halten und Jungtiere zu verteidigen.
Mildernde Umstände für ein Hormon
Testosteron stand plötzlich unter Verdacht, auch bei Menschen Aggressionen zu verstärken und sogar Verfolgungswahn auszulösen: ein gefundenes Fressen für US-Verteidiger, um bei Gewalttätern auf mildernde Umstände zu pochen. Das "Handbook of Crime Correlates" befasst sich mit der Frage, ob Testosteron und Kriminalität tatsächlich zusammenhängen. Eine Pattsituation – Lee Ellis, Kevin M. Beaver und John Wright finden genauso viele Fachartikel, um diese These wahlweise zu untermauern oder zu widerlegen. Selbst Arbeiten, die von signifikant höheren Hormonwerten bei Schwerstkriminellen berichten, haben Kritikpunkte hinsichtlich Ursache und Wirkung. "Der Nachteil vieler Studien ist, dass sie lediglich den Testosteronspiegel der Probanden mit deren Verhalten vergleichen", sagt Dr. Matthias Wibral vom Center for Economics and Neuroscience an der Universität Bonn. "Denn das Testosteron beeinflusst nicht nur das Verhalten, sondern das Verhalten umgekehrt auch den Hormonspiegel." So lag bei Jugendlichen der Verdacht nahe, ansteigende Testosteronwerte während der Pubertät mit Straftaten in Verbindung zu bringen. Starke Bindungen innerhalb der Familie ließen das Hormon schnell alt aussehen - hier bestand kein Zusammenhang zwischen freiem Testosteron und kriminellen Handlungen. Endokrinologen bemängeln auch, dass Testosteronwerte generell im Speichel oder im Blut bestimmt werden – eigentlich wäre der Spiegel im Gehirn interessant. Doch dazu müssten Messungen in der Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit durchgeführt werden, was aus ethischen und technischen Gründen problematisch ist.
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Soziale Kompetenz dank Testosteron
Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es noch viele Fragen zu klären. Vor rund zwei Jahren befasste sich Dr. Christoph Eisenegger, University of Cambridge, mit diesem Thema. "Wir wollten überprüfen, wie sich das Hormon auf das Sozialverhalten auswirkt", erklärt der Forscher. Zusammen mit Kollegen konzipierte er eine Studie mit 120 Frauen. Sie erhielten entweder Testosteron oder ein Placebo, bekamen jedoch die gleiche Information, ihre Tabletten enthielten den Wirkstoff. Dann folgten Tests wie die Aufteilung eines Geldbetrags zwischen mehreren Personen. Ein Ergebnis dieses sogenannten Ultimatumspiels: Probandinnen, die Verum erhielten, verhielten sich sozialer als unter Placebo, teilten Beträge gerechter auf und verringerten ihr Risiko, bei "Verhandlungen" zurückgewiesen zu werden, auf ein Minimum. Eine mögliche Erklärung: "In der sozial komplexen Umwelt des Menschen sichert pro-soziales Verhalten den eigenen Status – und nicht Aggression", so Dr. Michael Naef, Royal Holloway, University of London. Damit sei klar, warum Daten aus Tierexperimenten zu gänzlich unterschiedlichen Resultaten führten. Gingen Teilnehmerinnen bei Eiseneggers Studie allerdings davon aus, Testosteron eingenommen zu haben, obwohl sie in Wirklichkeit keinen Wirkstoff bekamen, verhielten sie sich ungerechter. Auch hier haben Mythen um Testosteron wieder das Ruder übernommen.
Neues Spiel – neues Glück
Mitte 2012 untersuchten Jack van Honk und David Terburg aus dem niederländischen Utrecht erneut, welche Effekte Testosteron in einem sozialen Umfeld hat. Um methodische Schwächen des Ultimatumspiels auszuschließen, setzten sie auf Public goods games (Öffentliche-Güter-Spiele): Virtuelle Summen können in einen zentralen Topf eingezahlt werden, um der Gemeinschaft zu dienen. Auch hier fanden Forscher positive Effekte des Testosterons auf das Sozialverhalten, und zwar bei Probandinnen mit niedrigem, pränatalem Testosteronspiegel. Dieser Wert lässt sich über die Länge des Zeigefingers im Verhältnis zur Länge des Ringfingers der rechten Hand bestimmen. Es besteht eine negative Korrelation zum Quotienten aus fetalem Estradiol und fetalem Testosteron.
Ein Hormon macht Männer ehrlich
Testosteron hat nicht nur bei Frauen positive Effekte. Auch das Sozialverhalten von Männern verbessert sich, wie Forscher der Uni Bonn herausfanden. Sie verabreichten 46 Probanden ein hormonhaltiges Gel, während 45 Teilnehmer wirkstofffreie Formulierungen erhielten. Beim anschließenden Spiel hatten alle Testpersonen die Möglichkeit, zu schummeln, um besser abzuschneiden. "Dabei zeigte sich, dass die Probanden mit den höheren Testosteronwerten deutlich seltener logen als die unbehandelten Testpersonen", so Professor Dr. Armin Falk, Center for Economics and Neuroscience an der Universität Bonn. "Dieses Ergebnis widerspricht klar dem eindimensionalen Ansatz, dass Testosteron zu antisozialem Verhalten führt." Auch hier argumentieren die Autoren mit gesellschaftlichen Normen wie Selbstwertgefühl oder Stolz, die Mensch und Tier eben unterscheiden.
Wenn die Seele leidet
Während Eisenegger und Falk hohen Testosteronspiegeln die Absolution erteilen, haben niedrige Werte durchaus Konsequenzen. Österreichische Urologen um Jakob E. Lackner untersuchten 675 augenscheinlich gesunde Männer. Sie bestimmten den Hormonspiegel ihrer Probanden und ließen diese noch Fragebögen zur physischen und psychischen Gesundheit ausfüllen. In der Tat bestand ein Zusammenhang zwischen niedrigen Testosteronspiegeln von 13,5 bis 14,5 nmol/l und seelischen Befindlichkeitsstörungen. Die Vergleichsgruppe hatte 15 bis 16 nmol/l im Blut. Als Untergrenze im klinischen Sinne gelten eigentlich weniger als 8,0 nmol/l, andere Arbeiten definieren das Minimum bei 11 bis 12 nmol/l. Offensichtlich kommt es schon früher zu deutlichen Symptomen. Auch hier fordern die Autoren, weitere Parameter in Betracht zu ziehen und den Fokus nicht nur auf Testosteron zu legen. Diese Aussage lässt sich auch auf das laufende Gerichtsverfahren übertragen.
Die Stunde der Experten
Im Fall Pistorius kommt auf die Anklagebehörden viel Arbeit zu. Sobald Forensiker des Staates und der Verteidigung ihre Gutachten vorgelegt haben, werden sie entscheiden müssen, ob sie strafmildernde Umstände geltend machen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist der kausale Zusammenhang zwischen Testosteron und Aggression äußerst fragwürdig.