Je früher ein Kind auf die Welt kommt, desto höher ist das Risiko von Defekten im Gehirn. Anders als bisher angenommen, sind die betroffenen Nervenzentren aber nicht abgestorben, sondern nur nicht ausreichend gereift. Eine Reparatur scheint möglich.
Fast jedes zehnte Kind in Deutschland kommt zu früh auf die Welt, eines von Hundert sogar sehr früh, vor der 30. Schwangerschaftswoche. Mit diesem Wert liegt Deutschland im vorderen Drittel der Frühchen-Häufigkeit in Europa und etwa 2 Prozent über dem Durchschnitt. In den vergangenen Jahren wurde unter Medizinern heftig über die Versorgung von Frühgeborenen gestritten. Besser in große spezialisierte Kliniken oder doch lieber regional? Fakt ist, dass zwar die Mortalität der Frühchen in den letzten Jahren zurückgegangen ist, nicht jedoch die Morbidität. Risiko für Schizophrenie und Depression Wer sehr früh die Gebärmutter verlässt, hat es schwerer im Leben. Was die Fähigkeiten des Gehirns angeht, stellten schwedische Forscher unter Frühchen vor der 32. Woche doppelt so viele Fälle von Schizophrenie fest, dreimal häufiger Depressionen und ein sieben Mal höheres Risiko für Bipolare Störungen. Diese Risiken werden zwar für Frühchen bis zur 36. Woche kleiner, erreichen aber nicht den Wert von Kindern, die ausreichend Zeit zum Ausreifen hatten. Als Schulkinder hat ein Viertel bis die Hälfte aller Frühgeborenen Lernschwierigkeiten. Kleineres Gehirnvolumen durch mangelnde Ausreifung? Zerebralparese ist ein typischer Frühchen-Befund. Frühkindliche Hirnschädigungen sind dabei die Ursache von motorischen Störungen. Die Kinder tun sich schwer mit willentlichen koordinierten Bewegungen. Sehr oft ist bei Frühgeburts-Kindern damit ein vermindertes Kortex-Wachstum verbunden. Funktionelle Magnetresonanzaufnahmen decken entsprechende Läsionen in verschiedenen Gehirnregionen auf. Unter Fachleuten galt bisher: Das geringere Gehirnvolumen geht auf abgestorbene Neuronen zurück. Entsprechend den Ergebnissen zweier Studien aus Kanada und dem amerikanischen Portland scheint das aber etwas anders zu sein. Denn die Nervenzellen leiden möglicherweise nur unter unvollständiger Ausreifung - Reparatur nicht ausgeschlossen. Die Forschergruppe um Steven Miller von der University of Toronto untersuchte zusammen mit Kollegen aus Vancouver die Gehirne von 95 Frühgeborenen per Kernspintomopraphie und veröffentlichte ihre Ergebnisse Anfang des Jahres in "Science Translational Medicine". Die Babys waren zwischen acht und 16 Wochen vor ihrem Termin auf die Welt gekommen. Für die Gehirnscans wandten die Neurologen die "Diffusion Tensor Imaging"-Technik an, eine Methode, die die Diffusionsbewegung von Wassermolekülen erfasst und damit die Struktur von Nervenfaserbündeln sichtbar macht. Bei zwei Messungen kurz nach der Geburt und kurz vor dem "normalen" Termin schauten sie aber nicht nur auf das Gehirn, sondern maßen auch Größe, Gewicht und Schädelumfang ihrer Schützlinge. Während sich die Nervenfasern, also die weiße Substanz, unabhängig vom körperlichen Wachstumsfortschritt entwickelte, hing die Reifung der grauen Substanz stark vom Wachstum der Neugeborenen im Brutkasten ab. Es scheint so, als hinke die Entwicklung der neuronalen Zellen denen der Oligodendrozyten - Gliazellen, die die Myelinscheide produziert - hinterher. Dürre Stämme statt verästelte Bäume Die fast ideale Ergänzung zu den Ergebnissen von Miller lieferten die Versuche von Stephen Back und seinem Team von der Universität in Portland/Ohio. Um Probleme bei der Gehirnentwicklung schon vor der Geburt zu sehen, bedienten sie sich eines Tiermodells für Frühgeburten, bei dem die Gehirnreifung der menschlichen ähnelt. Mit geübter Chirurgie konnten Backs Mitarbeiter den Blutzufluss zum fötalen Schafs-Embryo für etwa eine halbe Stunde unterbrechen und produzierten auf diese Weise eine Ischämie. Was die Forscher dann mit ähnlichen Bildgebungstechniken wie ihre kanadischen Kollegen sahen, ähnelte deren Beobachtungen. "Ich glaube, wir sehen letztendlich das Gleiche", erläutert Miller für den "New Scientist" seine Erkenntnisse: Statt eines fein verästelten Netzwerkes an Dendriten nur ein paar dürre Äste, die den Zellkörpern entsprießen. Die Zellen waren außerdem viel enger "zusammengequetscht". Als sie aber unter dem Mikroskop die Zellen auszählten und mit Kontrollen verglichen, kamen sie auf die gleiche Zahl. Die gezielte Ischämie hatte also die Neuronen nicht umgebracht, sondern nur in Wachstum und Differenzierung behindert. Insgesamt war damit aber das Gehirnvolumen im zerebralen Kortex deutlich vermindert. Da sich das fötale Gehirn im letzten Schwangerschaftsdrittel sprunghaft ausdehnt, könnten Probleme in der Blutversorgung besonders zu diesem Zeitpunkt schwerwiegende Folgen haben, beispielsweise eine Zerebralparese mit den entsprechenden kognitiven Handicaps im späteren Leben. Subkortikale Bereiche noch nicht erfasst Was die Forscher aber unter dem Mikroskop und auf dem Bildschirm entdeckten, erlaubt noch keine Rückschlüsse auf andere Gehirnbereiche. Denn bisherige Frühchen-Scans deuten auch auf ein geringeres Gehirnvolumen im Bereich des Thalamus, Hippocampus und der Basalganglien hin. Ob eine Schädigung dieser früher angelegten Nervenstrukturen nicht kausal eine Schädigung im Großhirn nach sich zieht, bleibt vorerst unklar, so die Engländer Zoltán Molnár und Mary Rutherford in einem Begleitkommentar in Science Translational Medicine. Anschub für unausgewachsene Nerven Eine Frühgeburt stört den ziemlich genau festgelegten Entwicklungsplan verschiedener Organe und Strukturen wie des Gehirns ganz erheblich. Auch ohne Ischämie sehen Ärzte oft ein geringeres kortikales und subkortikales Volumen der grauen Substanz. Da aber die Nervenzellen zwar beeinträchtigt, aber noch (fast) vollständig vorhanden sind, könnte ihnen mit geeigneten Faktoren möglicherweise auf die Sprünge geholfen werden. Zu dieser optimalen Versorgung gehören auch Bedingungen im Brutkasten, die entsprechend zügiges Wachstum des kleinen Körpers ermöglichen. "Verbesserte Ernährung", so Stephen Back, könnte dann bezüglich der kognitiven Fähigkeiten einen positiven Ausschlag bewirken. Der beste Aufenthaltsort für einen Fötus in den gesamten neun Monaten bleibt aber die Gebärmutter. Daher sollten sich Forscher und Ärzte das Ziel setzen, besonders in Deutschland die Zahl der Frühgeburten wieder zu senken. Die zweitbeste Alternative wäre, die Verhältnisse im Brutkasten denen in den Monaten davor immer mehr anzugleichen.