Ist Übergewicht gar kein Risikofaktor für Leib und Leben? Neue Studien deuten in diese Richtung. Doch so einfach ist die Sache nicht. Was diese Arbeiten vor allem zeigen ist, dass die BMI-Grenzwerte beziehungsweise der BMI-Parameter an sich problematisch sind.
Selten hat man Ärzte so aufeinander losgehen sehen wie nach der Veröffentlichung einer Metaanalyse zum Zusammenhang zwischen Gesamtsterblichkeit und Übergewicht Anfang des Jahres. Eine Wissenschaftlergruppe um Katherine M. Flegal von der US-Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control and Prevention hat sich für eine Publikation im Journal of the American Medical Association (2013; 309(1):71-82) über 7000 wissenschaftliche Veröffentlichungen angesehen. Für eine Metaanalyse blieben am Ende 97 Studien höherer Qualität übrig, an denen insgesamt immerhin 2,88 Millionen Menschen teilgenommen hatten, von denen 270.000 verstorben waren. Kein ganz kleiner Datenpool also. Was die CDC-Experten dann gemacht haben, war eine relativ simple Analyse. Sie haben die üblichen BMI-Kategorien genommen, also normaler BMI (18,5 bis < 25), Übergewicht (25 bis < 30), Grad I-Adipositas (30 bis < 35) und Grad II/III-Adipositas (ab 35). Diese wurden korreliert mit der Gesamtsterblichkeit. Ergebnis: Übergewichtige hatten mit einer Hazard Ratio von 0,94 im Vergleich zu Normalgewichtigen ein signifikant geringeres Sterberisiko. Das Risiko von adipösen Menschen aller Grade war mit einer Hazard Ratio von 1,18 signifikant erhöht. Wurden nur jene Menschen mit Grad I-Adipositas analysiert, war das Sterberisiko genauso hoch wie bei Normalgewichtigen. Es waren also in erster Linie die stark adipösen Menschen, die auf die erhöhte Sterblichkeit in der Gesamtpopulation der Adipösen durchschlugen. Vermutlich weil sie geahnt hatten, was sie lostreten würden, haben die Wissenschaftler noch eine zweite Analyse nachgeschoben, bei der sie nur jene Studien betrachtet haben, die sie für adäquat adjustiert hielten, also für Alter, Geschlecht und Rauchstatus, nicht aber für chronische Erkrankungen. Das Resultat ging in die gleiche Richtung. Wenig zimperlich: US-Experten machen den Steinbrück Noch immer schlägt diese Publikation Wellen. In Deutschland wurde breit darüber berichtet, meist mit dem Tenor, dass ein bisschen Übergewicht doch gar nicht so schlimm sei. In den USA war die Stoßrichtung der Medienberichterstattung ähnlich. Vor allem aber hat sich dort auch das medizinische Establishment pöbelnd zu Wort gemeldet. "A pile of rubbish", einen Müllhaufen, nannte Walter Willett von der Abteilung für Public Health die Metaanalyse. Er empfahl sogar öffentlich, sie gar nicht erst zu lesen. Er hat nicht gesagt, dass man stattdessen lieber seine eigenen Arbeiten lesen soll, aber vermutlich meinte er das. Aus deutscher Sicht bedauerlicherweise ging bei dem ganzen Trara eine andere Studie etwa unter, die zeitgleich im European Heart Journal (2013; 34(4):268-277) veröffentlicht wurde. Diese Untersuchung basiert auf Daten des bayerischen Schlaganfallnetzwerks TEMPiS, ein unselektiertes Kollektiv von Schlaganfallpatienten in "Feld-Wald-Wiesen-Kliniken" also. Die TEMPiS-Neurologen haben sich angesehen, wie hoch das Sterberisiko bei Schlaganfällen in Abhängigkeit von den BMI-Kategorien ist. Auch diese Ergebnisse sind durchaus bemerkenswert. Schlaganfallpatienten, die nach BMI-Kategorien übergewichtig sind, haben im Vergleich zu Normalgewichtigen eine Hazard Ratio für Gesamtmortalität von 0,69. Bei Grad I-Adipositas lag die Hazard Ratio bei 0,50, bei Grad II/III-Adipositas sogar nur bei 0,36, alles hoch signifikant. Grenzverschiebung ändert das Bild Die Frage ist jetzt: Was tun mit diesen Daten? Nicht lesen ist jedenfalls keine Option. Genau lesen könnte helfen. Wer aus der Metaanalyse im JAMA abliest, dass jedes zusätzliche Pfund das Leben verlängert – wie das einige Medienberichte suggerierten – hat schlicht falsch gelesen. Über alle Adipositas-Kategorien hinweg ist die Gesamtsterblichkeit im Vergleich zur normalen BMI-Klasse um 18 Prozent höher. Und bei Grad I-Adipositas ist sie zumindest nicht niedriger, sondern "nur" gleich groß. Die Musik spielt also offensichtlich in der Gruppe der gemäß BMI-Kriterien nur übergewichtigen Menschen. Die zumindest leben eindeutig länger als die normalgewichtigen Menschen. Dass das nur für die adipösen Menschen gelte, die gesund seien, stimmt so nicht, auch wenn das viele auch professionelle Kommentatoren behauptet haben. Die Autoren haben sich mit ihrer Zweitanalyse der aus ihrer Sicht "korrekt" adjustierten Studien, also Studien, die nur nach Geschlecht, Alter und Rauchstatus adjustiert wurden, zumindest bemüht, den Faktor adipositasassoziierte Erkrankungen mit zu berücksichtigen. Gut traniert = Übergewicht? Das entscheidende Problem der Metaanalyse ist ein anderes: die Stratifizierung nach BMI. Und hier sind wir an einem Punkt, der eigentlich überhaupt keine Neuigkeit ist. Eine Beurteilung von Übergewicht und Adipositas nur nach BMI ist schon deswegen problematisch, weil sich in den unteren Bereichen der BMI-Kategorie "Übergewicht" eine ganze Menge gut trainierter Sportler tummeln, die – das ist jetzt eine Hypothese – mit verantwortlich für das erstaunlich gute Abschneiden der Übergewichts-Gruppe in der US-Metaanalyse sein dürften. Viel aussagekräftiger, jeder Arzt weiß das, wäre der Bauchumfang oder das Taillen-Hüft-Verhältnis. Das steht für viele Studien aber einfach nicht zur Verfügung. Möglicherweise gibt es neben den formal "leicht übergewichtigen" Menschen weitere Schwierigkeiten mit einer zweiten "Problemzone" des BMI, nämlich der Übergangsregion zwischen Untergewicht und Normalgewicht. In der Metaanalyse von Katherine Flegal haben die gemäß BMI untergewichtigen Menschen ein signifikant erhöhtes Sterberisiko. Demnach könnte ein weiterer Grund für das schlechte Abschneiden der gemäß BMI normalgewichtigen Menschen der sein, dass die untere Normgrenze der Normalgewichtigkeit mit einem BMI von 18,5 viel zu tief liegt. Interessant wäre demnach, was passieren würde, wenn das Normalintervall des BMI testweise auf einen Bereich zwischen sagen wir 20 und 27 verschoben würde. Mehr Reserven im akuten Notfall? Diese Analyse liegt von Katherine Flegal leider nicht vor, aber aus anderer Quelle gibt es solche Daten durchaus. Auch deswegen ist die nahezu globale Aufregung um die Flegal-Metaanalyse nicht so richtig nachvollziehbar. Im Jahr 2008 wurde im New England Journal of Medicine eine europäische Studie publiziert, in der für die BMI-Gruppen kleinere Intervalle gewählt wurden (New England Journal of Medicine 2008; 359:2105). Ergebnis: Die geringste Mortalität gab es bei einem BMI von etwa 25 bei Männern und 24 bei Frauen. Und insgesamt gab es in einem BMI-Korridor von circa 21 bis circa 28 keine großen Unterschiede. Fazit: Sich monomanisch auf den BMI zu fixieren, ist keine gute Idee. Allerdings: Die Ergebnisse der deutschen Schlaganfallstudie lassen sich durch das Verschieben der BMI-Kategorien nicht weg erklären. Viel mehr wächst in dieser Studie der relative Benefit ziemlich kontinuierlich mit dem BMI. Aber die Situation ist hier natürlich auch eine ganz andere: Bei der Metaanalyse aus den USA geht es um das "chronische" Gesamtüberleben, bei Schlaganfallpatienten um die akute Sterblichkeit in einer lebensbedrohlichen Situation. Vielleicht hat die etwas platte Vermutung, wonach jedes Pfund mehr in solchen Situationen zusätzliche Reserven bedeutet, eine Berechtigung. Das ist allerdings auch wieder nur eine Hypothese.