Daher haben Radtke und ihre Kollegen an der Medizinischen Hochschule Hannover, eine neue mikrochirurgische Methode entwickelt, bei der Venen mit Spinnenseide als längsverlaufende Leitstruktur gefüllt werden. „Das funktioniert praktisch wie ein Rosengitter“, erklärt Radtke. „Die Nervenfasern benützen die Seidenfasern, um daran entlang zu wachsen um das gegenüberliegende Nervenende wieder zu erreichen. Die Seide bietet den Zellen gute Haftung, unterstützt die Zellbewegung und fördert die Zellteilung.“ Mit dieser Methode konnten im Tiermodell bei Nervenschädigungen Distanzen bis zu sechs Zentimetern überwunden werden: Die Nervenfasern wuchsen binnen neun Monaten funktionsfähig zusammen. Zugleich wird das Gerüst aus Spinnenfäden, das ein Naturprodukt ist, vom Körper total abgebaut. Eine Abstoßungsreaktion gibt es ebenfalls nicht.
200 Meter Spinnenseide in maximal 15 Minuten
Radtke besitzt derzeit 21 Spinnen – 50 sollen es noch werden. Der Spinnenfaden wird dann maschinell abgemolken. In 15 Minuten können so bis zu 200 Meter Spinnenseide gewonnen werden. Die Spinnen werden im Schnitt einmal pro Woche „gemolken“. Der Spinne selbst geschieht dabei nichts und sie bekommt später eine extra Ration Heimchen gefüttert. Für die Überbrückung eines Nervenschadens von sechs Zentimetern sind mehrere hundert Meter Seide nötig. Um die Spinnenseide zukünftig auch in klinischen Studien am Menschen einsetzen zu können, wird derzeit noch an der Zertifizierung als Medizinprodukt gearbeitet. Danach sind aber weitere Einsatzbereiche denkbar, so die Chirurgin, etwa in der Orthopädie bei Meniscus oder Bandverletzungen. Bei tiefen Hautverbrennungen auch als potentieller Hautersatz. Möglicherweise könnte die Spinnenseide künftig auch bei anderen neurologischen Erkrankungen eingesetzt werden, bei denen Zelltransplantationen eine Rolle spielen.