Jahr für Jahr sterben weltweit 55.000 Menschen an Tollwut. Neben infizierten Hunden oder Katzen spielen vor allem Fledermäuse als Vektoren eine zentrale Rolle. Neue Arbeiten befassen sich mit natürlicher Immunität und mit einem gewagten Protokoll zur Therapie.
Ein Patient landet mit ungewöhnlichen Symptomen in der Notaufnahme: Seine Leidensgeschichte beginnt mit Schmerzen im Arm. Schließlich treten merkwürdige Angstzustände auf: Der Betroffene kann nicht mehr duschen und nicht mehr trinken – so stark ist die Aversion gegen Wasser. Festes Essen stellt dagegen kein Problem dar. Ansonsten finden Kollegen im Massachusetts General Hospital keine Auffälligkeiten, weder in der Vorgeschichte noch hinsichtlich der Symptome. Der Patient berichtet nur von einem vermeintlichen Insektenstich, kann sich aber nicht an Tierbisse erinnern. Schließlich stellen Neurologen nach einer Kernspintomographie und einer Liquoruntersuchung die tödliche Diagnose: Tollwut. Der Infizierte verstirbt 30 Tage nach seiner Aufnahme. Im Nachhinein erinnert sich die Witwe an einen Vorfall. Nachts verirrten sich Fledermäuse in das Schlafzimmer – und ein Tier hat den Patienten wohl infiziert.
Zeit ist Leben
Zwar gibt es in Deutschland schon seit Ende 2008 keine klassische Tollwut mehr. Zuvor galten terrestrische Wildtiere, etwa Füchse, Dachse und Marder, als Überträger. Fledermäuse lösen hier zu Lande immer noch einzelne Erkrankungsfälle aus. In den USA häufen sich mittlerweile Berichte über Infektionen durch allerlei Fledertiere. Immer wieder stecken sich auch Urlauber an, die scheinbar zutrauliche Hunde in den Tropen streicheln. Wer von einem Tier gebissen wird, darf keine Zeit verlieren. Das Robert-Koch-Institut rät als Postexpositionsprophylaxe zur Tollwut-Schutzimpfung. Zeitgleich sollten Tollwut-Immunglobuline (20 IE/kg Körpergewicht) verabreicht werden. Ansonsten sieht die Prognose nicht gut aus. Viren vermehren sich nach dem Biss mehrere Tage im betroffenen Gewebe.
Wandern die Pathogene dann entlang des Nervensystems zum Gehirn oder Rückenmark, kommt es zu den ersten Symptomen – meist nach drei bis acht Wochen. Schließlich tritt eine Enzephalitis oder Myelitis auf. Laut älterer Lehrbuchmeinung versterben alle Patienten in diesen Stadien daran.
Verzweiflungstaten in der Klinik
In ausweglosen Situationen greifen Ärzte deshalb zu recht brachialen Maßnahmen. Die mittlerweile achtjährige Precious Reynolds infizierte sich durch Kontakte mit streunenden Katzen. Danach entwickelten sich die typischen Symptome: Hydrophobie, Krämpfe, Fieberschübe – eigentlich hätten Ärzte ihre Patientin nur noch palliativ behandeln können, das Nervensystem war bereits befallen. Doch die behandelnden Kollegen erinnerten sich an eine ältere Veröffentlichung: Rodney Willoughby, Kinderarzt aus Milwaukee, sah sich bereits 2004 bei Jeanna Giese mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert. Er entwickelte eine Behandlungsstrategie, bekannt als "Milwaukee-Protokoll": Seine jugendliche Patientin wurde in ein künstliches Koma versetzt. Dabei griffen Ärzte zu Ketamin und Midazolam, um die Gehirnaktivität zu reduzieren. Ketamin selbst ist laut Tierexperimenten ebenfalls gegen Tollwut aktiv. Außerdem verabreichten sie die virustatischen Arzneistoffe Ribavirin und Amantadin.
Neuronen unter Strom
Laut Willoughby seien pathologische Auswirkungen der Tollwut vor allem auf temporäre Störungen im Gehirn zurückzuführen. Im Gegensatz zu anderen Enzephalitiden viralen Ursprungs schädige Tollwut Nervenzellen durch Exzitotoxizität, sprich Reizüberflutung durch zu viele Neurotransmitter, erklärt der Arzt. Andere Pathogene greifen Neuronen direkt an. Willoughby arbeitete mit dieser These. Seine Hoffnung: Gelänge es, durch Drosselung neuronaler Aktivitäten dem Immunsystem Zeit zu geben, selbst gegen das Rabiesvirus vorzugehen, hätten Patienten eine Überlebenschance. Mit Erfolg – Jeanna Giese überlebte, und nach 31 Tagen fanden sich keine Viren mehr in ihrem Körper. Eine Reha schloss sich an, und langfristig hinterließ die Krankheit keine schweren Folgen. Ein paar Jahre später nahm Giese sogar ein Hochschulstudium auf. Precious Reynolds hatte ebenfalls Glück, das Protokoll schlug bei ihr an. Manche Medien sprechen bereits von einer neuen Behandlungsstrategie. Grund zur Euphorie gibt es aber noch lange nicht, zu unterschiedlich sind die Ergebnisse.
Kontrahenten im weißen Kittel
Dazu ein paar Zahlen: Unter der ursprünglichen Version des Milwaukee-Protokolls überlebten zwei von 25 Patienten. Nach Modifikation lag der Erfolg bei zwei von zehn Erkrankten: eine Chance für sterbenskranke Menschen, aber dennoch kein gutes Ergebnis. Warum das Milwaukee-Protokoll manchmal funktioniert, meistens aber versagt, wird von Forschern unter verschiedenen Aspekten diskutiert. Ein Grund könnte sein, dass sich manchmal nur wenige Viren im Körper der Patienten befanden. Zu Beginn der Krankenhauseinweisung wiesen Ärzte etwa bei Reynolds Antikörper, aber keine Erreger nach. Möglicherweise infizierten sich Patienten mit einer vergleichsweise harmlosen Form des Virus.
Die beiden Tollwut-Koryphäen Thiravat Hemachudha und Henry Wilde, Bangkok, vermuten, Ärzte hätten zufälligerweise Patienten selektiert, die auch ohne Therapie über die Runden gekommen wären. Kann das körpereigene Immunsystem tatsächlich Rabiesviren unschädlich machen? Dafür gibt es tatsächlich weitere Hinweise.
Irrt die Wissenschaft?
Mitte 2012 veröffentlichten Wissenschaftler eine interessante Studie. Sie untersuchen in Peru verschiedene Indio-Stämme. Bei den Truenococha und Santa Marta fanden sie Überraschendes: Von 63 Probanden hatte jeder zehnte im Blut Antikörper gegen Rabies-Viren. Impfungen scheiden als Ursache definitiv aus. Folglich müssen Ureinwohner mit dem Erreger selbst in Kontakt gekommen sein, ohne lebensbedrohlich zu erkranken. Amy Gilbert von den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) hofft, durch weitere Forschungsarbeiten Mechanismen zu entschlüsseln, die zur Immunisierung führen. Sie hält harmlosere Genotypen ebenfalls für möglich. In der Gegend grassieren allerdings auch Tollwuterreger mit bekannt hoher Letalität.
In den USA wiederum sorgte das "Texas Wild Child" für Aufsehen: ein Straßenkind, das typische Tollwut-Symptome ohne Therapie überstand. Antikörper-Tests verliefen positiv, Impfungen hatte die Patientin nicht. Ältere Fallberichte geben ebenfalls Hinweise auf diese Möglichkeit, sind aber nicht unbedingt hieb- und stichfest. Thiravat Hemachudha und Henry Wilde argumentieren in eine ähnliche Richtung, und zwar ausgehend von Tieren. Sie berichten, dass beispielsweise Hunde in einzelnen Fällen Tollwutinfekte überstehen. Die Mechanismen sind aber unbekannt.
Auf zu neuen Studien
Das wissenschaftliche Dilemma um Willoughbys Protokoll und um Fragen der Immunität können letztlich nur weitere Forschungsprojekte klären. Weltweit hält sich das Interesse jedoch in Grenzen, kein Wunder: Über 99 Prozent aller Infekte ereignen sich in Entwicklungsländern. Auch sind die Fallzahlen – verglichen mit anderen Leiden – eher niedrig.