In vielen EU-Ländern wütet die Finanzkrise: Erste Auswirkungen der fiskalischen Sparmaßnahmen sind laut einer aktuellen Studie jetzt spürbar. So hätten die Einschnitte in das Gesundheitsangebot eine dramatische Verschlechterung des allgemeinen Gesundheitszustandes der Bevölkerung in Spanien, Griechenland und Portugal nach sich gezogen.
Bisher sei es durch die harten Sparmaßnahmen nicht gelungen, die wirtschaftliche Situation in den Euro-Ländern zu verbessern, vielmehr wurde zusätzlich deren Gesundheitswesen enorm belastet, analysiert Studienleiter Dr. Martin McKee vom Europäischen Observatorium für Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik und Professor der London School of Hygiene and Tropical Medicine (LSHTM). So habe das Zurückfahren der öffentlichen Ausgaben und die Einschnitte in das Gesundheitsangebot eine dramatische Verschlechterung des allgemeinen Gesundheitszustandes der Bevölkerung in Spanien, Griechenland und Portugal nach sich gezogen und zu einem Anstieg bei psychischen Erkrankungen und Selbstmorden geführt. Darüber hinaus schade die strikte Sparpolitik der EU-Troika (Kontrollgremium aus Vertretern der Europäischen Zentralbank EZB, Internationalen Währungsfonds IWF und EU-Kommission) Wirtschaft und der öffentlichen Gesundheit gleichermaßen. Die Generaldirektion für Gesundheits- und Konsumentenschutz der Europäische Kommission sei per Abkommen verpflichtet, die Auswirkungen der EU-Politik auf die Gesundheit zu überprüfen, denn politische Entscheidungen über den Umgang mit Wirtschaftskrisen haben bedeutende und unvorhersehbare Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit. Tatsächlich haben sich Gesundheitsbehörden und Gesundheitsminister im Verlauf der Wirtschaftskrise auffallend ruhig verhalten. McKee kritisierte weiters, dass Finanz- und Wirtschaftsdaten viel schneller zur Verfügung stünden und mehrmals im Jahr publiziert werden, während es bei Gesundheitsdaten wesentlich länger dauert, bis sie verfügbar sind. Krisenländer Portugal, Spanien und Griechenland Dennoch seien einige gesundheitliche Auswirkungen der Eurokrise bereits klar erkennbar: Psychische Erkrankungen wie Depressionen sind in Griechenland und Spanien auf dem Vormarsch und die allgemeine gesundheitliche Verfassung der Bevölkerung und der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen haben sich in Griechenland seit Ausbruch der Krise verschlechtert. Das Griechische Gesundheitsministerium meldete zwischen Januar und Mai 2011 eine Explosion der Selbstmordrate um 40 Prozent gegenüber der Vergleichsperiode 2010. Die Anfang April veröffentlichten Eurostat-Zahlen dokumentieren einen Anstieg der Arbeitslosenrate von 21,4 auf 26,4 Prozent zwischen Dezember 2011 und Dezember 2012. Eine empirische Analyse aus dem Jahr 2009 „The public health effect of economic crisis and alternative policy responses in Europe“ zeigt einen direkten Zusammenhang zwischen Arbeitslosen- und Suizidrate: Demnach führt ein Anstieg der Arbeitslosenrate um ein Prozent zu einer Steigerung der Suizidrate um 0,79 Prozent bei unter 65-Jährigen. Erhöht sich die Arbeitslosenrate um mehr als drei Prozent, wächst die Selbstmordrate sogar um 4,5 Prozent. „Jeweils 10 US-Dollar, die pro Person für aktive Arbeitsmarktprogramme ausgegeben werden, reduzieren die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf die Selbstmordrate um 0,38 Prozent“, erklärt Studienautor Dr. David Stuckler, Department of Sociology der Oxford-University. „Leider werden aber gerade solche offensiven Arbeitsmarktprogramme im Zug der Sparmaßnahmen in vielen Ländern eingeschränkt“, bedauert McKee. In Schweden, wo in Relation zur Einwohnerzahl relativ viel in Gesundheitsausgaben investiert werde, sei keinerlei Zusammenhang zwischen Konjunktur und Sterblichkeitsraten feststellbar, in Spanien hingegen, wo die öffentliche Gesundheitsvorsorge auf einem wesentlich geringeren Stand sei, stiegen die Sterblichkeitsraten mit der zunehmenden Arbeitslosigkeit, so Stuckler. Gleichzeitig warnt die Weltgesundheitsorganisation WHO, „dass es keine Überraschung ist, wenn es in der Bevölkerung zu mehr Stress, Selbstmorden und psychischen Erkrankungen kommt, die Bedürftigen und Kranken die ersten sind, die betroffen sind und es schwieriger wird, die bestehenden Gesundheitsbudgets aufrecht zu erhalten.“ Musterschüler Island Island ist trotz ähnlicher, finanzieller Probleme des Finanzsektors einen anderen Weg gegangen. Obwohl das Land als eines der ersten von der Finanzkrise betroffen war, haben sich in einem Referendum 93 Prozent der Bevölkerung gegen ein Bankenrettungspaket des IWF ausgesprochen. Die Folge war ein Währungsverfall der isländischen Króna (-35% Abwertung), explodierende Importkosten und hohe Einkommenseinbußen. Dennoch waren die Auswirkungen auf das isländische Gesundheitssystem vernachlässigbar, weil die Regierung verstärkt in soziale Absicherung und Arbeitsmarktpolitik investierte. Darüber hinaus haben sich die Ernährungsgewohnheiten verbessert. Der Fastfoodriese Mc Donald´s hat sich wegen der hohen Importkosten für Zwiebel und Tomaten aus Island zurückgezogen und die Bevölkerung hat sich verstärkt auf das Kochen von heimischen Fisch in den eigenen vier Wänden verlegt, was zusätzlich die isländische Fischindustrie unterstützt hat. Und schließlich hat der soziale Zusammenhalt dazu beigetragen, dass die Krise besser als in anderen Ländern bewältigt wurde, wodurch es auch zu keinem Anstieg der Selbstmordrate gekommen ist. „Obwohl eine Extrapolation auf andere Länder mit Sorgfalt vorgenommen werden sollte, zeigt sich am Beispiel Island, das die Lehren aus dem schwierigen wirtschaftlichen Umfeld gezogen hat, dass Alternativen zum strikten Sparkurs vorhanden sind“, so McKee abschließend. Wie reagierten andere Länder? Einige Länder wie Lettland, Polen, Slowenien und Österreich nutzten die Krise um Kosten im Krankenhauswesen und Pharmasektor zu sparen, indem sie ihre Preisverhandlungsposition bei gegenüber Pharmafirmen stärkten. Dänemark, Griechenland, Lettland und Slowenien beschleunigten ihre Restrukturierungsmaßnahmen im Krankenhaussektor. Andere wie Zypern, Irland, Litauen und Rumänien senkten oder froren die Gehälter (England, Slowenien) des medizinischen Personals ein oder reduzierten die Gehaltserhöhungen (Dänemark), was zu einem Ausgleich der Gehaltsunterschiede und damit zu einem Abwandern medizinischer Fachkräfte führen könnte. In den Niederlanden wurden einige Angebote wie in-vitro-Fertilisation und Psychotherapie aus dem Leistungsspektrum gestrichen. Leider seien wegen fehlender Daten und Verzögerungseffekten, die gesundheitlichen Auswirkungen dieser Maßnahmen derzeit noch nicht absehbar, bedauern die Studienautoren.
Das Europäische Observatorium für Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik fördert evidenzbasierte Gesundheitspolitik, indem es die Dynamik der Gesundheitssysteme in Europa umfassend analysiert. Das Observatorium ist aus einer Partnerschaft zwischen dem europäischen Regionalbüro der WHO, den Regierungen von Belgien, Finnland, Irland, den Niederlanden, Norwegen, Slowenien, Spanien, Schweden und der Region Veneto in Italien, der EU-Kommission, der Europäischen Investmentbank, der Weltbank, der London School of Economics and Political Science (LSE) und der LSHTM entstanden. Es besteht aus einem Lenkungsausschuss, einem Management-Team, einer Forschungsggruppe und weiteren Mitarbeitern. Der Sitz befindet sich in Brüssel mit Büros in London, Berlin und Moskau.