Forscher haben nun ein neues Verfahren zur Frühbehandlung der Multiplen Sklerose (MS) entwickelt und dieses erfolgreich in einer ersten klinischen Studie an MS-Patienten geprüft.
Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronische entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS). Aus Studien sowohl im Menschen als auch dem Tiermodell der MS weiß man, dass Immunzellen (T-Zellen), die gegen körpereigenes Gewebe gerichtet sind, sogenannte autoreaktive T-Zellen, eine entscheidende Rolle in der Auslösung, aber auch Erhaltung der Erkrankung einnehmen. Die derzeit zugelassenen Behandlungen der MS beeinflussen das Immunsystem jedoch nur unspezifisch, d. h. sie hemmen nicht ausschließlich spezifische autoreaktive T-Zellen, sondern auch lebenswichtige, „gesunde“ Anteile der Immunantwort. Idealerweise sollten sich Therapien spezifisch nur gegen jene Immunzellen richten, welche die Erkrankung auslösen. Ziel des neuen Verfahrens war es, bei MS-Patienten spezifisch Immuntoleranz in jenen T-Zellen zu induzieren, die gegen entscheidende Zielstrukturen im Gehirn und Rückenmark gerichtet ist. Bei dem neu entwickelten Therapieansatz werden Blutzellen mit einem krankheitsauslösenden Selbstantigen in Anwesenheit einer Kopplungssubstanz inkubiert. Dadurch werden diese Antigene an die Oberfläche der Zellen gekoppelt. Die peptidgekoppelten Zellen werden dem Patienten am Tag der Behandlung zurückgegeben und leiten Prozesse ein, die die krankheitsverursachenden Immunmechanismen abschalten und eine Immuntoleranz gegenüber dem eigenen Hirngewebe wiederherstellen. Im Tiermodell konnte durch umfangreiche Experimente in den letzten 30 Jahren, insbesondere durch die Arbeitsgruppe von Prof. Stephen Miller an der Northwestern University in Chicago, der auch Ko-Autor dieser Studie ist, überzeugend gezeigt werden, dass durch dieses Verfahren Immuntoleranz induziert werden kann. Es gelang im Tiermodell der MS und anderer Autoimmunerkrankungen nicht nur den Ausbruch, sondern insbesondere auch das Fortschreiten der Erkrankung zu verhindern. Das Verfahren konnte im Tier auch erfolgreich die Abstoßung von Transplantaten verhindern und Allergien hemmen.
Für den erstmaligen Einsatz im Menschen wurde von dem Team um Studienleiter Prof. Roland Martin gemeinsam mit dem Hamburger Institut für Transfusionsmedizin (Dr. Andreas Sputtek) ein Herstellungsprozess etabliert, um das autologe Zellprodukt unter den von den regulatorischen Behörden geforderten Bedingungen herzustellen. Dabei werden Patienten weiße Blutkörperchen, sogenannte Leukozyten, über eine Leukozytapherese entnommen und in einem Reinlabor unter sehr hohen Sicherheitsauflagen verarbeitet. Hierzu gehört die Kopplung mit sieben Myelinpeptiden, die in der MS eine wichtige Rolle als Zielantigene der Autoimmunreaktion spielen, mehrere Waschschritte und die Überprüfung auf Reinheit und Sterilität der Zellen, bevor diese dem Patienten am gleichen Tag zurückgegeben werden. Die Therapie wurde in einer Phase-I-Studie (Etablierte Toleranz bei MS – ETIMS Studie) an neun MS-Patienten geprüft. Die Patienten erhielten aufsteigende Zahlen der eigenen peptidgekoppelten Zellen bis zu einer Maximaldosis von 3x109 Zellen. Voraussetzung zur Teilnahme in der Studie war der Nachweis einer autoreaktiven T-Zell-Antwort gegen eines der in der Studie eingesetzten Myelinpeptide. Klinische, bildgebende (MRT) und immunologische Parameter wurden verwendet, um die Sicherheit und Verträglichkeit von ETIMS zu prüfen. In aufwändigen immunologischen Untersuchungen (geleitet von Dr. Mireia Sospedra) wurden die Effekte der Therapie auf das Immunsystem erforscht. Alle Patienten wurden in der MS-Sprechstunde der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf betreut und in regelmäßigen Abständen untersucht. Für die einmalige Gabe der ETIMS-Zelltherapie wurden die Patienten im Klinischen Studienzentrum der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf (Prof. Rainer Böger) stationär aufgenommen und 48 Stunden überwacht. Die Ergebnisse der Studie wurden nun in der Fachzeitschrift Science Translational Medicine publiziert. Zusammenfassend wurde die Therapie von allen Patienten gut vertragen und es traten keine Sicherheitsbedenken auf. Erstmals konnte für dieses Verfahren im Menschen gezeigt werden, dass die spezifisch gegen Myelinantigene gerichtete Autoimmunreaktion bei Patienten mit MS reduziert wird.
Der Ansatz kann als großer Fortschritt auf dem Weg zu einer personalisierten Medizin bei MS betrachtet werden. Die Auswahl der Myelinpeptide beruht auf der Untersuchung individueller T-Zellantworten bei MS-Patienten über die letzten 20 Jahre durch das Labor von Prof. Martin. Da das Verfahren eine hohe Flexibilität bei den eingesetzten Antigenen ermöglicht, könnte die Therapie in Zukunft an das individuelle Spektrum autoaggressiver T-Zellen angepasst werden. Prof. Martin, der mit einem Teil seines Teams ans UniversitätsSpital Zürich gewechselt ist und dort die Abteilung Neuroimmunologie und Multiple-Sklerose-Forschung an der Neurologischen Klinik leitet, plant nun eine Phase-II-Studie, um erstmals die Wirksamkeit dieser neuen Behandlung auf den Krankheitsverlauf von Patienten mit MS zu prüfen. Sollte sich der Nutzen der Therapie in einer Phase-II-Studie bestätigen, gilt das Verfahren als ein vielversprechender Ansatz nicht nur in der Behandlung von verschiedenen Autoimmunerkrankungen, sondern auch in der Transplantationsmedizin und bei allergischen Erkrankungen. Originalpublikation: Antigen-Specific Tolerance by Autologous Myelin Peptide–Coupled Cells: A Phase 1 Trial in Multiple Sclerosis Roland Martin et al.; Sci Transl Med, DOI: 10.1126/scitranslmed.3006168; 2013