In Deutschland leiden etwa 120.000 Menschen an Multipler Sklerose. Mit innovativen Arzneistoffen versuchen Neurologen, gegen reaktive T-Zellen vorzugehen. Ihr Fernziel: eine personalisierte Therapie.
Nicht selten beginnt MS mit einem klinisch isolierten Syndrom: Als erste Anzeichen gelten Entzündungen des Sehnervs – innerhalb von Stunden oder Tagen verschlechtert sich der Visus drastisch. Kollegen therapieren akute Symptome leitliniengerecht mit Glukokortikosteroiden, wobei nach wenigen Monaten bereits der nächste Schub folgen kann und weitere Nervenzellen zu Grunde gehen.
Forscher am Uniklinikum Heidelberg fanden jetzt eine neue Möglichkeit, um Zellen vor dem Untergang zu bewahren: Erythropoetin (EPO) schützt den Sehnerv vor Entzündungen – das Hormon hat auch neuroprotektive Eigenschaften. Bekamen Patienten neben der Cortison-Standardbehandlung drei Tage lang EPO, gingen deutlich weniger Nervenzellen im Sehnerv und in der Netzhaut zu Grunde als bei einer Kontrollgruppe. Nach dem Erfolg ihrer Pilotstudie planen Heidelberger und Freiburger Neurologen jetzt eine Patientenstudie mit 100 Teilnehmern, bei denen erstmals Entzündungen des Sehnervs auftreten, um Potenziale ihrer Therapie auszuloten. Später soll der Einsatz auch bei fortgeschrittenen MS-Stadien untersucht werden.
Ähnlich erfolgversprechend sind Arbeiten zu Daclizumab. Der humanisierte, monoklonale Antikörper blockiert Interleukin-2-Rezeptoren und supprimiert Immunreaktionen. Davon profitierten noch bis 2008 Patienten nach einer Nierentransplantation. Mit Daclizumab HYP (high-yield process) steht jetzt ein stärker glykosyliertes, weniger zytotoxisches Biological zur Verfügung. Ein paar Zahlen: Im Rahmen der SELECT-Studie erhielten 621 Patienten entweder das therapeutische Protein subkutan (150 beziehungsweise 300 Milligramm) oder Placebo. Unter Verum verringerte sich die Zahl neuerlicher Krankheitsschübe um bis zu 54 Prozent. Auch blieben 80 Prozent aller Studienteilnehmer der Daclizumab-Gruppe schubfrei, im Vergleich zu 64 Prozent unter Placebo. Nach diesem Erfolg planen Kollegen, den Antikörper mit Beta-Interferonen, sprich Standards der Immunmodulation, zu vergleichen.
Weitere Untersuchungen befassen sich mit Alemtuzumab. Dieser humanisierte, monoklonale Antikörper bindet an ein Glykoprotein namens CD52 auf Lymphozyten. Zur Datenlage: An der CARE-MS-I-Studie nahmen 581 MS-Patienten, die bisher noch nicht behandelt worden waren, teil. In CARE-MS-II wurden 840 Patienten aufgenommen, bei denen weitere Krankheitsschübe trotz Basistherapie auftraten. Nach zwei Jahren waren unter Alemtuzumab deutlich mehr Teilnehmer beschwerdefrei als unter Beta-Interferon, nämlich 78 versus 59 Prozent (CARE-MS-I) beziehungsweise 65 versus 47 Prozent (CARE-MS-II). In Summe konnte die Schubrate halbiert werden. Allerdings kam es häufiger zu Nebenwirkungen wie sekundären Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse oder Infektionen. Nach zwei Jahren bestand für Teilnehmer die Möglichkeit, bei nachweislicher Verschlechterung weiterhin Antikörper zu erhalten. Betroffene, die bereits zu Beginn Alemtuzumab bekamen, waren nach drei Jahren zu 67 (CARE-MS-I) beziehungsweise zu 55 Prozent (CARE-MS-II) schubfrei. Bei 40 beziehungsweise 45 Prozent kam es sogar sogar zu einer Besserung, gemessen an der Expanded Disability Status Scale (EDSS). Pharmakologen rechnen noch in diesem Jahr mit einer Zulassung des therapeutischen Antikörpers.
Andere Pharmaka sind noch weiter auf ihrem Weg in Richtung Marktreife. Bereits im März gab der Ausschuss für Humanarzneimittel bei der European Medicines Agency ein positives Votum für die oralen Arzneistoffe Dimethylfumarat und Teriflunomid. Mit der Markteinführung ist frühestens im zweiten Halbjahr 2013 zu rechnen. Deshalb warnen das Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose und die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft Betroffene eindringlich vor Abbrüchen ihrer laufenden Interferon- oder Glatirameracetat-Behandlung. Zu Fumarsäure gibt es jahrelange Erfahrungen mit Psoriasis-Patienten. Als wahrscheinlichster Angriffspunkt bei MS gilt der Transkriptionsfaktor Nrf2. Dessen Aktivierung kurbelt die Synthese zytoprotektiver Proteine an. Umfangreiche Daten zu Dimethylfumarat aus der Phase-III-CONFIRM-Studie mit 1.417 Patienten haben bestätigt: Sowohl BG-12 (Dimethylfumarat) als auch Glatirameracetat verringern im Vergleich zu Placebo MS-Schübe und verbessern neurologische Parameter signifikant. Ähnlich gute Ergebnisse brachte die Phase-III-DEFINE-Studie mit 1.234 Patienten – hier verglichen Kollegen BG-12 und Placebo. Der Anteil von Patienten mit MS-Schüben nahm ebenfalls signifikant um 49 Prozent ab, und die Schubrate wurde um 53 Prozent gesenkt – jeweils verglichen mit Placebo. Im Rahmen der ENDORSE-Extensionsstudie sollen Patienten bis 2016 weiter begleitet werden. Teriflunomid wiederum hemmt die Pyrimidin-Synthese, laut TEMSO-Studie ergibt sich ein signifikanter Mehrwert im Vergleich zu wirkstofffreien Präparaten. Daten aus der TOWER-Studie mit 1.169 Patienten bestätigen dies: Die Schubrate verringerte sich um 22 Prozent (7 Milligramm Teriflunomid) beziehungsweise um 36 Prozent (14 Milligramm), gemessen am Scheinmedikament.
Nicht jede Untersuchung verläuft derart stromlinienförmig. Laquinimod beispielsweise senkt die jährliche Schubrate im Vergleich mit Placebo nur um 24 Prozent. Ergebnisse der ALLEGRO-Studie enttäuschen, denkt man an die 50 Prozent bei Fumarsäure-Derivaten. Allerdings ist Laquinimod gut verträglich und verringert die MS-Progression relativ deutlich um 30 Prozent. Damit könnte dieser Arzneistoff ebenfalls einen Platz im Spektrum möglicher Therapiestrategien haben – möglicherweise als Kombination mit anderen Pharmaka.
Hamburger Immunologen gingen noch einen Schritt weiter und versuchten, die Autoimmunreaktion an sich zu vermeiden. Sie inkubierten Leukozyten mit MS-spezifischen Antigenen und gaben Kopplungssubstanzen hinzu. Im Tiermodell gelang es, durch entsprechende Zellen eine induzierte Immuntoleranz zu erzielen, sprich Ausbruch und Progression von MS zu unterdrücken. Nach ersten Erfolgen testeten die Forscher ihr Verfahren im Rahmen der ETIMS-Studie (Phase I) an neun Patienten, jetzt liegen Resultate vor. Alle Probanden zeigten zu Beginn erhöhte T-Zell-Reaktivitäten gegen mindestens ein Myelinpeptid. Über Leukozytapherese gewannen Ärzte weiße Blutkörperchen und verknüpften diese mit sieben typischen Eiweißen. Bei Patienten, die mehr als 109 Peptid-gekoppelte Zellen erhielten, verringerte sich die antigenspezifische T-Zell-Antwort. Denkbar wäre, Myelinantigene dem Spektrum reaktiver T-Zellen eines Patienten anpassen – als Schritt zur personalisierten MS-Therapie. Jetzt soll eine Phase-II-Studie folgen, um den Nutzen zu bestätigen.
Zumindest in den USA sind Kollegen nach Sichtung entsprechender Studien recht zuversichtlich: Der amerikanische Neurologenverband erwartet in nächster Zeit mehrere Neuzulassungen. Damit könnte, hieß es auf der letzten Jahrestagung, Multiple Sklerose einen Teil ihres Schreckens verlieren. Ob pharmazeutische Hersteller in Zeiten des AMNOG auch deutsche Märkte rasch erschließen, bleibt abzuwarten. Immerhin haben Union und Liberale Nachbesserungen initiiert, um bessere Vergleichstherapien bei der frühen Nutzenbewertung zu ermöglichen.