Anaphylaxien sind selten aber potenziell lebensbedrohlich. Trotzdem wissen Patienten oft nicht, wie sie im Notfall handeln müssen. Nun sollen spezielle Schulungsprogramme die Betroffenen zu Experten in eigener Sache machen.
Sie kennen ihre Anaphylaxie-Auslöser nicht oder wissen nicht, wie sie den Kontakt mit ihnen vermeiden; sie haben keine Notfallmedikamente oder welche mit abgelaufenem Verfalldatum; sie setzen ihren Adrenalin-Injektor nicht ein oder halten ihn im Ernstfall verkehrt herum und spritzen sich in den Daumen. Nach allem, was man so weiß, sind viele Menschen mit einer Veranlagung zu Anaphylaxien nicht ausreichend auf den Umgang mit ihrer speziellen Disposition vorbereitet. Das Risiko, das sie dadurch eingehen, ist nicht zu unterschätzen.
Zwar ereignen sich Anaphylaxien nicht eben häufig, „in Deutschland sind pro Jahr schätzungsweise zwischen 4.000 und 16.000 Menschen betroffen“, sagt Professor Dr. Margitta Worm, Leiterin des Allergie Centrums Charité in Berlin. Allerdings gehen die Hypersensitivitätsreaktionen mit schweren Symptomen einher und können auch fatal enden. „Nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes pendelt die Zahl der Todesfälle zwischen 30 und 50 pro Jahr“, sagt Worm. „Es werden aber längst nicht alle Fälle als solche erkannt beziehungsweise gemeldet. Die tatsächliche Inzidenz dürfte daher um den Faktor 10 höher sein.“ Erschwerend kommt hinzu, dass sich Anaphylaxien nicht sicher vermeiden lassen. Das gilt vor allem für Patienten mit Nahrungsmittelallergien. Potente Allergene wie Milch, Hühnerei, Nüsse, Weizen und Soja sind in industriell verarbeiteten Lebensmitteln häufig enthalten, bei offenen Lebensmitteln wie Speiseeis, Back- oder Wurstwaren fehlen oft auch noch entsprechende Deklarationen. Dementsprechend kann es trotz größter Vorsicht immer wieder mal zu einem versehentlichen Auslöserkontakt kommen. Darauf deuten auch wissenschaftliche Untersuchungen hin. Sie zeigen, dass die meisten Patienten mit einer nahrungsmittelbedingten Anaphylaxie bereits vorher von ihrer Allergie gewusst und das auslösende Nahrungsmittel unwissentlich zu sich genommen haben. Ähnliche Schlüsse lassen auch die Daten des deutschen Anaphylaxieregisters zu. „Die Meldungen zeigen, dass es sich bei jedem dritten Fall von nahrungsmittelbedingter Anaphylaxie um eine wiederholte Reaktion handelt“, sagt Worm, „über alle Auslöser hinweg bei jedem vierten.“
Ärzte sind also gut geraten, ihre Patienten mit Anaphylaxierisiko zu schulen und auf den Ernstfall vorzubereiten. In der täglichen Praxis fehlt dazu aber meist die Zeit. Daher hat die Arbeitsgemeinschaft Anaphylaxie – Training und Edukation AGATE e.V. ein Schulungsprogramm für Patienten mit Anaphylaxierisiko - im Falle von Kindern auch für die Sorgeberechtigten – entwickelt. Eine Teilnahme wird als sinnvoll angesehen, wenn Patienten einen Adrenalin-Injektor verordnet bekommen haben und ein wesentliches Anaphylaxierisiko besteht. Davon ist laut AGATE auszugehen, wenn Patienten
Die Schulungen finden an zwei halben Tagen statt und werden von diversen Kliniken angeboten, teils auch von spezialisierten Praxen wie beispielsweise der von Dr. Katja Tischer in Starnberg. Die Kinderärztin und Allergologin hat sich zur Anaphylaxie-Trainerin ausbilden lassen, weil sie den Bedarf für derartige Schulungen nahezu täglich erlebt. „Unserer Erfahrung nach nimmt die Zahl anaphylaktischer Reaktionen gerade bei Säuglingen und Kleinkindern zu“, sagt Tischer. Die Betroffenen selbst und ihre Eltern haben Angst vor einer neuerlichen Anaphylaxie und davor, dann nicht richtig zu reagieren. „Dies gilt natürlich erst recht, wenn die Kinder in fremder Obhut sind“, sagt Tischer.
In den Kursen lernen die Teilnehmer daher, wo sie mit ihren Auslösern überall in Kontakt kommen können und wie sie diesen Kontakt bestmöglich vermeiden, welche Organsysteme bei einer Anaphylaxie betroffen sein können und welche Symptome dabei auftreten. Sie erfahren, wie schnell und wie lange Antihistaminika, Glukokortikoide, Adrenalin und Salbutamol wirken und nach welchem Schema sie eingesetzt werden. Vor allem aber können Teilnehmer nach der Schulung den Adrenalin-Injektor richtig handhaben: Mit einer wirkstoff-und nadelfreien Version üben sie die Anwendung immer wieder und erhalten das Gerät auch mit nach Hause. Ziel ist es, das Selbstmanagement der Patienten beziehungsweise der Sorgeberechtigten zu verbessern. Und offenbar gelingt das auch. „Im Nachhinein berichten viele Teilnehmer, dass sie mehr Sicherheit in der Interpretation zweifelhafter Situationen und in der akuten Behandlung einer Anaphylaxie gewonnen haben“, sagt Tischer. „Viele profitieren auch von den Erfahrungen anderer Teilnehmer und haben gelernt, den Kontakt mit Auslösern im Alltag besser zu vermeiden und ihr soziales Umfeld auf ihre Situation aufmerksam zu machen.“ Tischers Erfahrungen decken sich auch mit einer Auswertung, die die AGATE selbst vorgenommen hat. Darin wurden der Informationsstand und die praktischen Fähigkeiten einer geschulten Gruppe mit denen einer nicht geschulten Wartegruppe verglichen. Erste Ergebnisse zeigen, dass das Wissen der Patienten durch die Schulung signifikant zunimmt und sie in praxisbezogenen Verhaltenstests signifikant besser abschneiden. Bleibt zu hoffen, dass das Wissen dann auch im Ernstfall umgesetzt werden kann.
Informationen zum Lehrplan und zu den Schulungszentren unter www.anaphylaxieschulung.de. Eine Übernahme der Schulungskosten durch die Krankenversicherung muss derzeit noch für jeden Patienten individuell beantragt werden. Die AGATE bietet auch Train-the-Trainer-Seminare an, in denen sich Ärzte, Psychologen, Pädagogen, ärztliche Psychotherapeuten, Ernährungsfachkräfte, Krankenschwester und –pfleger sowie weitere Berufsgruppen mit Erfahrung in der Betreuung von Anaphylaxie-Patienten zum Anaphylaxie-Trainer ausbilden lassen können.