Die elektronische Gesundheitskarte, von der Bundesregierung vor mehr als zehn Jahren als Leuchtturmprojekt angekündigt, hat bisher 1,7 Milliarden Euro verschlungen. Nun meldeten dpa und Süddeutsche Zeitung, sie stünde vor dem Aus. Die Regierung dementierte prompt.
Medikationsplan, Behandlungsablauf und aktuelle Vermerke – all das könnte auf der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) gespeichert werden. Theoretisch. In der Praxis ist bisher fast nichts von dem umgesetzt worden, was ursprünglich geplant und von der Bundesregierung schon 2004 als Leuchtturmprojekt angekündigt worden war. Nun drängt die Zeit: Bis zum 1. Juli 2018 sollen alle Arztpraxen das Lesegerät für die eCard angeschafft haben. Doch welches Lesegerät? Für welche Daten? Wenige Wochen vor der Bundestagswahl wird die eCard Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) nun womöglich zum Verhängnis. „Hochrangige Mitarbeiter von Ärzteverbänden und gesetzlichen Krankenkassen berichten, es gebe in der Bundesregierung Pläne, die eCard nach der Bundestagswahl für gescheitert zu erklären“, meldete die Süddeutsche Zeitung am Montag dieser Woche. Woher diese Informationen stammen und wer die hochrangigen Mitarbeiter seien, verrät der Artikel nicht – ebenso wenig, wie eine Regierung etwas umsetzen soll, die im September selbst zur Disposition steht. Die Deutsche Pressagentur (dpa) berichtete in eine ähnliche Richtung: Es sei „unsicherer denn je, wann die Gesundheitskarte die in sie gesetzten Erwartungen erfülle“, habe der Vorstandschef der AOK Bayern, Helmut Platzer, geäußert, hieß es. Und Wolfgang Krombholz, Vorstandschef der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns, hege Zweifel an der Zukunftsfähigkeit der Gesundheitskarte, die Technik sei überholt.
Das Bundesgesundheitsministerium (BGM) reagierte noch am selben Tag mit einem Dementi. Die Darstellungen entbehrten jeder Grundlage und seien falsch, so eine Sprecherin. Gröhe sagte im Interview mit dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR), es gebe keinen Anlass für Ausstiegsszenarien, der Testlauf sei beendet, jetzt beginne der Realbetrieb. Auch die digitale Vernetzung zwischen Krankenhäusern und Facharztgruppen würden gelingen, sagte Gröhe. Ob diese Einschätzung realistisch ist oder eher aufgrund des Wahlkampfs getroffen wurde, ist fraglich. Tatsächlich hatte die Regierung angekündigt, schon 2006 eine eCard mit Notfalldatensatz und Medikationsplan bereitstellen zu wollen. Dieser sollte gefährliche Wechselwirkungen ausschließen und jedes Jahr Tausende Todesfälle vermeiden. Mehr als zehn Jahre später ist nichts davon tatsächlich umgesetzt; nach Berechnungen des Dachverbands der Innungskrankenkassen sind aber bisher rund 1,7 Milliarden Euro in die Entwicklung der eCard geflossen.
Der Termin 1. Juli 2018 gilt nach wie vor; bis dahin sollen alle Arztpraxen in Deutschland ein Lesegerät für die Karten angeschafft haben. Gröhe hatte diese Frist ins Gesetz geschrieben, ebenso wie die Auflage für alle Verbände von Ärzten, Kliniken, Apothekern und Krankenkassen, mit der Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte (Gematik) die technische Umsetzung für die eCard zu steuern. Anfang Juni meldete die Gematik, in die Schlussphase der Einführung zu gehen. Die Zuverlässigkeit dieser Aussage steht allerdings in Frage. So sieht zum Beispiel Doris Pfeiffer, die Chefin des GKV-Spitzenverbands, den Zeitplan zur Einführung der eGK kritisch: „Vor dem Hintergrund der Lieferschwierigkeiten der Industrie hatte die Gesellschafterversammlung der Gematik bereits einige Wochen zuvor festgestellt, dass die verbleibende Zeit von einem Jahr für den flächendeckenden Rollout der technischen Infrastruktur nicht ausreichen wird.“ Tatsächlich hatte die Gematik die Telekom-Tochterfirma T-Systems und die Koblenzer Compugroup mit der Entwicklung eines bundesweiten Lesegeräts beauftragt, das die hohen Sicherheitsstandards für den Umgang mit sensiblen Patientendaten erfüllt. Die Compugroup erhielt im vergangenen November die Zulassung für ihr Lesegerät, T-Systems jedoch nicht. Über 150 Mal seien die technische Anforderungen geändert worden, beklagte ein Sprecher von T-Systems. Die Compugroup jedenfalls ist derzeit der einzige Anbieter auf dem Markt und diktiert den Preis. Um den Wettbewerb zu fördern, hat die Gematik nun zusätzlich ein weiteres Unternehmen beauftragt, die österreichische Research Industrial Systems Engineering (Rise).
„Wir haben Mitte Juni die Ankündigung des Bundesgesundheitsministeriums begrüßt, zu prüfen, ob der Termin verschoben werden sollte“, sagt Pfeiffer. „Seitens des Verordnungsgebers war konkret geplant, die oben genannte Frist auf den 31.12.2018 anzupassen“, in Kraft getreten sei dies aber nicht. Sie vermute, dass es selbst bei einer optimistischen Einschätzung zu einer zweijährigen Verzögerung kommen werde, so Pfeiffer weiter. Kritik besteht auch an der Technik selbst, sie soll veraltet sein. „Mit den heutigen technischen Möglichkeiten würde man vermutlich das Projekt einer Gesundheitskarte und der elektronischen Plattform anders auflegen“, sagt Roland Stahl, Pressesprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Andererseits stelle die Karte eine vergleichsweise sichere Lösung dar, und sie sei mittlerweile bei den 70 Millionen gesetzlich krankenversicherten Bürgern angekommen.
Einige Krankenkassen haben das Problem mittlerweile selbst in die Hand genommen. So kündigte die AOK Bayern eine Kooperation mit Partnern aus der Wirtschaft und Ortskrankenkassen an, die Techniker Krankenkasse (TK) beauftragte schon im Februar das IT-Unternehmen IBM mit der Entwicklung einer eigenen elektronischen Patientenakte. „Einige Krankenkassen können natürlich im Kleinen etwas ausprobieren und Tests machen“, sagt Ann Marini, Sprecherin des GKV Spitzenverbands. „Aber es ist wichtig, dass es irgendwo auch wieder eine Anbindung zwischen Teilprojekten und dem Gesamtprojekt gibt. Denn jeder Versicherte, egal, in welcher Krankenkasse er ist, muss von der modernen Technik profitieren.“ Die Entwicklergesellschaft Gematik äußerte sich in diesen Tagen nicht zu der Problematik. Bis Redaktionsschluss hieß es am Telefon, die Pressestelle sei nicht besetzt. Ein Anliegen könne man gern per Mail schicken.