Krebszellen müssen durch Blutgefäße versorgt werden, damit ein Tumor wachsen kann. Das Fettgewebe übergewichtiger Mäuse scheint in ähnlicher Weise auf Blutgefäße angewiesen zu sein. Diese Erkenntnis könnte Ausgangspunkt für eine Medikation gegen Übergewicht sein.
Vor mehr als einem Jahrzehnt entdeckte Judah Folkman an der Harvard Medical School, dass das Fettgewebe in Mäusen über Angiogenesehemmer beeinflusst werden kann. Im Jahr 2002 veröffentlichte Folkman seine einzige Publikation zu diesem Thema. Eigentlich beschäftigte sich der Wissenschaftler mit dem Wachstum von Blutgefäßen in Tumoren - Fettgewebe interessierte ihn nicht besonders. Vielleicht knüpfte Folkman aus diesem Grund nie an seine Entdeckung an, bevor er im Jahr 2008 verstarb.
Wissenschaftler des Medical Centers der University of Mississippi versuchen nun Folkmans Entdeckungen mit ihren Erkenntnissen zu vereinen. Dr. Jian-Wei Gu, Leiter der Studie, interessiert sich eigentlich dafür, welche Rolle Fettgewebe bei Krebs spielt. Inspiriert durch Folkmans Publikation testete er mit seinen Kollegen, ob ein bereits zugelassenes Krebsmedikament auch Fettzellen zum Schmilzen bringen kann. Dr. Gu erklärt, was ihn antreibt: “In den USA sind momentan nur drei Medikamente gegen Übergewicht zugelassen. Zu allem Übel sind diese Arzneimittel nicht besonders wirksam und haben jede Menge unerwünschte Nebenwirkungen. Momentan haben wir faktisch kein gutes Medikament, das zu einem signifikanten Gewichtsverlust führt und keine anderen Probleme verursacht.“ In ihren Versuchen verabreichten Gu und seine Kollegen fettleibigen Mäusen das Krebsmedikament Sunitinib, welches das Wachstum von Blutgefäßen unterbindet. Sunitinib wird zur Behandlung von Nierenkrebs und Tumoren im Magen-Darm-Trakt eingesetzt. Der Wirkstoff kappt die Blutversorgung des Tumors und hindert ihn so am Weiterwachsen.
Gu und seine Kollegen testeten Sunitinib an Mäusen mit postmenopausalem Übergewicht. „Wir konnten bereits in früheren Arbeiten zeigen, dass postmenopausale Fettleibigkeit mit einer gesteigerten Angiogenese im Fettgewebe einhergeht“, so Gu. Den Versuchstieren waren die Eierstöcke entfernt worden, um sie vorzeitig in die Menopause zu führen. Anschließend wurden sie vier Wochen lang fettreich ernährt, um extremes Übergewicht zu erzeugen. Die Mäuse erhielten dann täglich Sunitinib über einen Zeitraum von zwei Wochen. Das Medikament wurde entweder oral oder durch abdominale Injektionen verabreicht. Als Kontrolltiere dienten dieselben postmenopausalen, fettleibigen Tiere, denen aber kein Wirkstoff verabreicht wurde.
Nach der Behandlung mit Sunitinib hatten die Mäuse im Schnitt 70 Prozent ihrer Fettmasse verloren. „Ihre Muskelmasse blieb davon allerdings unbeeinträchtigt“, so Prof. Gu. Ob der Wirkstoff dabei oral oder über abdominale Injektionen verabreicht worden war, spielte für den Fettmasseverlust keine nennenswerte Rolle. Und es kam noch besser: Sunitinib schien auch den Appetit der Mäuse zu drosseln. Als die Behandlung beendet war, fraßen die Tiere, die den Wirkstoff erhalten hatten, weniger als ihre Artgenossen. „Das ist möglicherweise eine Begleiterscheinung des Fettverlustes und der veränderten Hormone, die im Gehirn die Nahrungsaufnahme steuern“, erklärt Gu die Versuchsergebnisse.
Obwohl das Medikament bereits für andere Anwendungen beim Menschen zugelassen ist, müssen zunächst noch weitere Tests an Mäusen erfolgen, um den Fettverlust beim Menschen zu untersuchen. „Angiogeneseproteine erfüllen im Körper vielfältige Aufgaben“, so Prof. Gu. Sunitinib könnte zu unerwünschten Nebenwirkungen führen, die im Mausmodell bisher noch nicht zu Tage getreten seien. Die Forscher planen außerdem, das Medikament auch an anderen Tiermodellen für Übergewicht zu testen.
Das statistische Jahrbuch 2012 des statistischen Bundesamtes verzeichnete im Jahr 2009, dass 41 Prozent der männlichen Bevölkerung in Deutschland übergewichtig sind, also einen BMI über 25 haben. 14 Prozent der Männer sind mit einem BMI über 30 sogar stark übergewichtig. Bei den Frauen sieht es mit 27 Prozent Übergewichtigen und 13 Prozent Adipösen nur wenig besser aus. Oft fällt den Betroffenen eine Umstellung ihres Ess- und Bewegungsverhaltens schwer. Die Ursache dafür sollte gefunden und behoben werden, um langfristige Therapieerfolge zu erzielen. Die pharmakologische Unterstützung zum Gewichtsverlust ist in Deutschland noch beschränkter als in den USA. Als einziges hier zugelassenes Medikament gibt es in Deutschland den Wirkstoff Orlistat, seit 2010 auch in der rezeptfreien Version zu kaufen. Die Wirkung beruht auf einer Störung der Fettresorption des Gegessenen - d. h., der Fettanteil wird in Form von Fettdurchfällen ausgeschieden. Die Wirkung bleibt weitgehend auf die Mahlzeit nach der Medikamenteneinnahme beschränkt. Nachteil: Mit der fehlenden Fettaufnahme werden auch fettlösliche Vitamine mit dem Stuhl ausgeschieden. Wäre ein Angiogenesehemmer also eine willkommene pharmakologische Alternative für Deutschland?