Sind Testkäufer Beauftragte in Sachen Qualitätssicherung oder Racheengel, um gegen unliebsame Konkurrenz vorzugehen? Diese Frage stellt sich momentan im südlichsten Kammerbezirk. Besonders brisant ist, dass Funktionäre aus Kammer und Verband ebenfalls in den Strudel der Ereignisse geraten sind.
Rx-Boni, eine unendliche Geschichte: In der Vergangenheit hatte die Europa Apotheek Venlo mit satten Prämien von 2,50 Euro, später 2,49 Euro, pro Präparat für unrühmliche Schlagzeilen gesorgt. Damit lagen die Niederländer auch über wettbewerbsrechtlichen Bagatellgrenzen – der Bundesgerichtshof hatte einen Euro als Spürbarkeitsschwelle definiert. Aus Sicht der Arzneimittelpreisbindung ist jeder Cent Rabatt angreifbar. Das sah der Bayerische Apothekerverband (BAV) nicht anders und zog mehrfach vor den Kadi.
Gerichte verschiedener Instanzen bestätigten diese Sichtweise (LG München I, Az. 9 HK O 17566/06 und Az. 9 HK O 1810/07; OLG München, Az. 29 U 3744/08 und 29 U 3648/08). Trotz rechtskräftiger Entscheidungen hielt die Europa Apotheek Venlo an ihrem Bonusmodell fest. Da sie weiterhin gegen rechtskräftige Unterlassungstitel verstieß, häuften sich Ordnungsgelder von mittlerweile 600.000 Euro an. Im Oktober 2012 schlug die Versandapotheke dann zurück. Sie schickte mehrere Pseudo-Customer nach Bayern – keineswegs, um die Beratungsqualität im Freistaat flächendeckend zu überprüfen. Vielmehr besuchten Testkäufer an drei Tagen gezielt 25 Apotheken. Deren Chefs haben leitende Funktionen beim Bayerischen Apothekerverband (BAV) beziehungsweise bei der Bayerischen Landesapothekerkammer (BLAK) inne.
Tatsächlich wurden Pseudo-Customer in Augsburg mehrfach fündig. Ein Testkäufer bekam die Antibabypille Belara® ohne Rezept für seine vermeintlich an Grippe erkrankte Frau. Nach gängiger Praxis wurden 3x21 Stück abkassiert, aber nur ein Blisterstreifen mit Hinweis auf das erforderliche Rezept abgegeben. Ein anderer Testkäufer erhielt ohne Probleme das rezeptpflichtige Imodium® lingual als N3-Packung, angeblich für mehrere Auslandsaufenthalte, sowie fünf Packungen des OTCs Formigran®. Auch verkauften Mitarbeiter Prostagutt® forte und Hoggar® Night dem „Sohn“ eines Patienten mit Prostathypertrophie, ohne auf Kontraindikationen hinzuweisen. Für die Europa Apotheek Venlo war das eine gelungene Steilvorlage, um ihrerseits gegen Offizinapotheker aktiv zu werden. Sie monierte Verstöße gegen das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG), gegen die Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO), das Arzneimittelgesetz (AMG), die Verordnung über die Verschreibungspflicht von Arzneimitteln (AMVV) sowie gegen die Berufsordnung. Nachdem Landgerichte zu unterschiedlichen Ansichten gekommen waren, musste sich das Oberlandesgericht München mit dem Thema befassen, mittlerweile liegen schriftliche Urteile vor. Überraschend: Die Bewertung hängt weniger von Paragraphen und Gesetzen ab, sondern vom Zivilsenat selbst.
Der 29. Zivilsenat des Oberlandesgerichts München (Az.: 29 U 194/13) hob ein Urteil des Landgerichts Augsburg gegen den Inhaber auf und wies den Antrag auf einstweilige Verfügung ab. Darin wurde dem Kollegen unter Androhung eines Ordnungsgeldes von bis zu 250.000 Euro untersagt, Belera® und Imodium® lingual 50 Stück ohne Rezept abzugeben. Zwar kritisierten Richter Verstöße gegen das AMG und die AMVV. „Die Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs ist hier jedoch (...) unter Berücksichtigung der Gesamtumstände missbräuchlich und damit unzulässig“, heißt es mit Hinweis auf das UWG, § 8. Als Vermutung lag auf dem Tisch, die Europa Apotheek Venlo würde „überwiegend sachfremde, für sich gesehen nicht schutzwürdige Interessen und Ziele“ verfolgen, als „eigentliche Triebfeder“ und als „beherrschendes Motiv“ des Verfahrens. Deutliche Worte, die noch einen anderen Hintergrund haben: Kollegen aus Venlo wollten mit ihrer konzertierten Aktion gegen BAV- und BLAK-Funktionäre Druck aufbauen, damit der Verband seinerseits nicht weiter gegen die Europa Apotheek vorgeht. Auch fehlten den Richtern überzeugende Argumente, warum eine niederländische Versandapotheke überhaupt Testkäufer nach Bayern schickt, und dann noch speziell in Apotheken hochrangiger Repräsentanten des Berufsstands. Ein Vergleichsentwurf brachte das Fass zum Überlaufen: Darin schlug die Europa Apotheek Venlo vor, auf Ansprüche zu verzichten, die sich aus Pseudo-Customer-Besuchen ergeben hätten. Im Gegenzug soll der BAV seinerseits alle vollstreckbaren Titel in Frieden ruhen lassen.
Rund einen Monat später kam der 6. Zivilsenat am Oberlandesgericht München zu einer stark abweichenden Einschätzung (Az.: 6 U 5211/12). Hier ging es um die Abgabe von Prostagutt® forte und Hoggar® Night sowie um Formigran®. Beim Triptan fanden Richter keinen Hinweis auf Verstöße gegen § 4 UWG („Unlauter handelt insbesondere, wer einer gesetzlichen Vorschrift zuwiderhandelt, die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln“). Auch sei nicht gegen § 48 AMG („Verschreibungspflicht“) in Verbindung mit Anlage 1 der AMVV verstoßen worden. Der Knackpunkt: Naratriptan darf in einer Wirkstoffmenge von maximal 2,5 mg je Tablette und maximal 5 mg pro Packung als OTC abgegeben werden. Allerdings ist diese Ausnahme nicht an maximale Packungszahlen gekoppelt – möglicherweise eine Gesetzeslücke. Im Gegensatz dazu bewertete das OLG Prostagutt® forte plus Hoggar® Night als Verstoß gegen die Beratungspflicht nach § 20 ApBetrO. Gängige Apothekensoftware reagiert bei letzterem Medikament etwa mit der Warnmeldung „Nicht anwenden bei Patienten mit Prostatahyperplasie mit Restharnbildung“. Trotz der eigentümlichen Testkäufe waren Richter nicht überzeugt, dass Venlo vorrangig wettbewerbsfremde Zwecke verfolgt. Es gäbe zwar Anhaltspunkte „dass die Aktion auch als Gegenschlag, als Retourkutsche“ gedacht war. „Dies genügt indes nicht, um ein rechtsmissbräuchliches Vorgehen zu bejahen“, heißt es weiter. Der Zivilsenat fand keinen Hinweis auf „überwiegend sachfremde, für sich genommen nicht schützenswerte Interessen“ als „eigentliche Triebfeder ihres Vorgehens“. Zu dem holländischen Vergleichsangebot, quasi beide Verfahren gegeneinander aufzuwägen, nahmen die Richter jedoch nicht Stellung.
Mit den nächsten Einzelfallentscheidungen rechnen Juristen im Juli. Die beiden Urteile werfen bereits heute etliche Fragen auf: Lassen sich arzneimittel- und wettbewerbsrechtliche Bestimmungen mit Hinweis auf „sachfremde Interessen und Motive“ einfach aushebeln? Darüber hinaus bleibt offen, inwieweit eine Apotheke die Beratungsqualität von Konkurrenten mit Testkäufern überprüfen lassen kann. Das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) muss außerdem klären, ob die Abgabe mehrerer OTC-Kleinpackungen mit Triptanen oder Omeprazol als Wirkstoff legitim ist. Bei Naratriptan beispielsweise existieren vom gleichen Hersteller N1-Gebinde ohne Rezeptpflicht sowie N2- und N3-Packungen als Rx-Präparate. Das Thema ist nicht ohne Relevanz – bereits im Oktober sollen Kleinpackungen mit Zolmitriptan und Sumatriptan ohne Rezept erhältlich sein. Trotz aller Streitigkeiten wirbt die Europa Apotheek Venlo indes weiter mit Rx-Boni – momentan erhalten Patienten einen Euro pro Präparat.