Irren ist menschlich, manchmal tödlich: Zahlreiche Organisationen und Verbände haben Medikationsfehlern den Kampf angesagt. Die Einrichtung einer Professur für Arzneimittelsicherheit an der MHH Hannover belegt, wie brisant die Thematik ist.
„Nach einer europaweiten Studie ist davon auszugehen, dass in Deutschland jährlich rund 58.000 Menschen an Medikationsfehlern sterben“, sagte Prof. Dr. Jörg F. Debatin, ehemaliger Ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf in der Nachrichtensendung "heute". Medikationsfehler stellten im deutschen Teil der PCISME-Studie ("Primary Care International Study of Medical Errors") mit 30,4 % die größte Gruppe der berichteten Fehlereignisse dar. Exemplarisch verdeutlicht eine Fehlermeldung der Studie die Problematik: Ein Patient bestellt ein Rezept gegen Heuschnupfenbeschwerden und schlägt „Lisino“ vor. Die Arzthelferin erstellt ein Rezept mit „Lisinopril“. Die Ärztin unterschreibt das Rezept. Der Apotheker erkennt auf Nachfrage des Patienten den Fehler. Es erfolgt eine Korrektur nach Rückfrage in der Praxis. Bei diesem so gennantem Systemfehler hat sich die Ärztin auf die Arzthelferin verlassen und ein Rezept unterschrieben, für einen Patienten, den sie nicht kannte.
„Es sind oft Abläufe, die per se relativ einfach sind, aber in der täglichen Praxis aufgrund von Zeitdruck schief laufen“, erklärt Dr. Julia Rohe vom Institut für Allgemeinmedizin an der Frankfurter Goethe-Universität. Der Arzt diktiert ein Medikament, die Arzthelferin schreibt ein phonetisch ähnlich klingendes auf das Rezept. In die meisten Fehler ist aber ein anderer „Kollege“ involviert: der Computer. Beim Schreiben des Rezepts am PC klickt der Arzt oder die Helferin eine Zeile weiter oben oder unten das benachbarte Arzneimittel auf der Liste an. Ohne das gedruckte Rezept erneut zu kontrollieren, wird es dem Arzt zur Unterschrift vorgelegt. Wenn auch hier eine notwendige erneute Kontrolle ausbleibt, ist der „human error“ passiert. Am Ende der Fehlerkette und als letzte Kontrollinstanz steht immer der Mensch. So auch beim Applizieren von Injektionen. Eine Kontrolle allein reicht nie aus. Bei der Verabreichung einer Injektion/Infusion muss erst die Anweisung mit den Patientendaten verglichen werden, dann die Verordnung mit der Aufschrift auf dem Umkarton der Arzneimittelpackung, dann erneut das Etikett auf der Ampulle. Der Arzt muss, auch aus haftungsrechtlichen Aspekten, vor jeder Medikation prüfen, ob das richtige Medikament mit dem richtigen Lösungsmittel für den richtigen Patienten am richtigen Applikationsort gegeben wird. Der Arzt trägt die Delegations-, die Arzthelferin/MFA die Durchführungsverantwortung. Er sollte sich immer die Ampulle zeigen lassen, aus der das Medikament aufgezogen wird. Eine Medikation ist erst dann abgeschlossen, wenn das Pharmakon seine Wirkung wie vorgesehen entfaltet hat. Besonders dort, wo Ampullen dicht zusammen gelagert werden, ist größte Vorsicht geboten. Beispielsweise im Notfallkoffer. Wenn Atropin, neben Alupent oder Adalat stecken, sind in stressigen Notfallsituationen Fehler vorprogrammiert. Dr. Rohe hat an ihrem Institut ein anonymes Fehlerberichts- und Lernsystem etabliert. Unter "Jeder Fehler zählt" kann jeder Arzt mitmachen.
Was ist eigentlich ein „Medikationsfehler“? Laut PCISME-Studie ein Ereignis, von dem Sie selbst sagen: „Das war eine Bedrohung für das Wohlergehen des Patienten und sollte nicht passieren. Ich möchte nicht, dass es noch einmal passiert“. Es werden UAWs von UAEs unterschieden. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) werden von der WHO als schädliche und unbeabsichtigte Reaktionen definiert, die in Dosierungen auftreten, die beim Menschen zur Prophylaxe, Diagnose, Therapie oder zur Modifikation physiologischer Reaktionen üblich sind. Unerwünschte Arzneimittelereignisse (UAE) werden als schädliche und unbeabsichtigte Reaktionen definiert, die mit der Anwendung eines Arzneimittels in Zusammenhang stehen. Weitere Informationen zur PCISME und dem Kieler Projektschwerpunkt "Fehlerprävention und Risikomanagement in der allgemeinmedizinischen Praxis" sind unter www.allgemeinmedizin.uni-kiel.de verfügbar.
In einer sehr aufwendigen Studie von Ebbesen et al. wurde über einen Zeitraum von 2 Jahren bei nahezu allen Krankenhauspatienten einer internistischen Station bereits bei der Aufnahme Blutproben entnommen und auf Arzneimittelkonzentrationen hin untersucht. Auch das Blut von in der Klinik verstorbener Patienten wurde so untersucht. Bei 78 Prozent der verstorbenen Patienten wurden Autopsien vorgenommen. Von den insgesamt 732 während des Studienzeitraums verstorbenen Patienten erlitten 133 eine UAE, die in 64 Fällen als direkte und in 69 Fällen als indirekte Todesursache eingestuft wurde. Bei 13.992 Patienten entspricht dies einer Inzidenz letaler UAE von 0,95 Prozent. Insgesamt waren somit 66 der 133 tödlichen UAE (49,6 Prozent) vermeidbar, da sie infolge von Medikationsfehlern auftraten. In mindestens 24 Fällen hätte die Vermeidung der UAE den Todesfall des Patienten verhindert. In allen Phasen der Medikation können sich Fehler einschleichen:
Medikationsfehler können während jeder dieser 4 Prozessphasen auftreten. Besonders häufig sind die Verordnungs- und Applikationsfehler, während Übertragungs- und Distributionsfehler deutlich seltener beobachtet werden.
Professor Dr. Dirk Stichtenoth ist seit dem Jahr 2011 Professor für Arzneimittelsicherheit an der MHH Hannover. Er soll neue Forschungsprojekte voranbringen und die bestehenden Beratungs- und Informationssysteme weiter ausbauen. Die Angebote des „Zentrums für Arzneimittelsicherheit“, das den Ärzten der MHH und niedergelassenen Kollegen Fragen zu Risiken von Medikamenten (ZAS) beantwortet, soll weiter ausgebaut werden. Der Arzt für Pharmakologie hat an der MHH ein Risikomanagementsystem ausgebaut, dem Fehler und Fast-Fehler gemeldet werden. "ein Medikationsfehler ist [...] jedes vermeidbare Ereignis, das zu einer unangemessenen Medikationsverwendung oder zu einer Schädigung des Patienten führen kann, soweit die Medikation unter Aufsicht des medizinischen Fachpersonals, Patienten oder Konsumenten steht." [National Coordinating Council for Medication Error Reporting and Prevention]
Eine Expertengruppe hat den Anteil der Medikationsfehler an den UAE jüngst auf 19 bis 56 Prozent geschätzt. Die EMA hat die Medikationsfehler im Juli 2012 sogar offiziell zu einem meldepflichtigen Ereignis gemacht: Ärzte sind seither aufgefordert, ihre Medikationsfehler beispielsweise an das Portal der EudraVigilance mitzuteilen. Sechs Rezepte der EMA sollen helfen, Medikationsfehler zu minimieren:
Die Empfehlungen sollen laut EMA Grundlage für einen Aktionsplan sein, den die Behörde zeitnah vorstellen will. Leider sind diese „Rezepte“ sehr allgemein gehalten. Konkreter und praxisnäher nimmt sich die FDA des Problems an und hat eine Liste von Arzneimittelnamen erstellt, die phonetisch ähnlich klingen. Die Organisation schlägt vor, mit gezielter Großschreibung von Wortsilben auf die Unterschiede hinzuweisen. Im offenen Fehlermeldesystem PaSIS findet man u.a. folgenden Fehler: „Der Perfusor mit Propofol war über Stunden unbemerkt anstatt mit mg/kg/h auf µg/kg/min gelaufen. Zufällig war es dabei weder zu einer Unterdosierung noch einer Überdosierung gekommen, da die Konzentration des Propofols auch mit 2% anstatt 1% eingegeben worden war. Diese Problematik ist offensichtlich sehr bedeutsam, da die Häufigkeit mit "fast täglich" angegeben wurde. Immerhin ist die tatsächliche Dosierung im vorliegenden Fall nur 1/16 der geplanten gewesen (durch die 2%ige Lösung immerhin noch 1/8), so dass das Potential für eine Patientengefährdung deutlich erhöht war (auch Awareness...!)“. Das Beispiel zeigt, dass ein Fehler den anderen teilweise kompensiert hat, in diesem Fall hat der Patient Glück gehabt. „Ein Chirurg, der die falsche Seite des Skalpells verwendet, schneidet glücklicherweise nicht den Patienten, sondern sich selbst in die Finger; würde das gleiche auf Arzneimittel zutreffen, so wäre sie schon vor langer Zeit sehr intensiv untersucht worden“ Rudolf Buchheim, Beiträge zur Arzneimittellehre, 1849 Weitere Informationen: