Der Weichmacher Bisphenol A (BPA) scheint ein wahres Teufelszeug zu sein. Nun konnten Wissenschaftler zeigen, dass er auch den Zahnschmelz nachhaltig und irreversibel schädigen kann.
Bisphenol A (BPA) wird weltweit in großen Mengen hergestellt. In den menschlichen Körper gelangt es vor allem über Lebensmittel, deren Verpackungen die Verbindung enthalten. Plastikdosen und Getränkebehältern aus Kunststoff, aber auch Konserven- und Getränkedosen aus Metall enthalten Bisphenol A. Im menschlichen Körper scheint die allgegenwärtige Chemikalie bereits in geringen Konzentrationen ähnlich wie weibliche Östrogene zu wirken. BPA könnte für Entwicklungsstörungen, neurologische Schäden, ein schwaches Immunsystem, ein erhöhtes Krebsrisiko, speziell bei Brustkrebs, Verhaltensauffälligkeiten, Unfruchtbarkeit bei Männern, Übergewicht, Diabetes und Herz-Kreislauf-Probleme (mit)verantwortlich sein, wie Wissenschaftler vermuten und diskutieren. Nun könnte ein nachhaltig geschwächter Zahnschmelz diese Liste ergänzen, denn gerade in den ersten Lebensmonaten während der Bildung des Zahnschmelzes, seien Kinder besonders anfällig für die Effekte von BPA und die Konzentrationen in ihren Körpern hoch, berichten französische Wissenschaftler.
Die Molar-Incisor-Hypomineralisation (MIH) ist eine Mineralisationsstörung an den bleibenden Schneidezähnen (engl. Incisor) und den ersten bleibenden Backenzähnen (engl. Molar) im Ober- und Unterkiefer. Die oberen Schneidezähne sind häufiger betroffen als die unteren. Eine MIH ist nicht zu übersehen. Betroffene haben gelblich-weiße bis braune Verfärbungen auf einzelnen Bereichen eines Zahnes oder auf dem ganzen Zahn. Je dunkler die Farbe, desto poröser die Zahnsubstanz und desto größer die Gefahr posteruptiver Substanzverluste. Der hypomineralisierte Schmelz hat im Vergleich zu normalem Schmelz einen niedrigeren Kalzium- und Phosphorgehalt sowie einen höheren Kohlenstoffanteil. Die mechanische Belastbarkeit des betroffenen Schmelzes ist herabgesetzt, wodurch es schon unter normaler Kaubelastung zu Schmelzabsprengungen kommen kann. Nicht selten leiden die Betroffenen unter einer erhöhte Empfindlichkeit für thermische, chemische und mechanische Reize. Wenn die Zahnpflege schmerzt, beginnt ein Teufelskreis, denn eine vernachlässigte Mundhygiene führt zu Karies. Bei der zahnärztlichen Behandlung kann das Schmerzempfinden der meist jungen Patienten häufig selbst durch eine Lokalanästhesie nicht wesentlich verbessert werden. Die betroffenen Kinder leiden unter ihren Zahnarztsitzungen sehr.
Laut dem Zahnärzteblatt Baden-Württemberg liegt die Prävalenz der MIH in Deutschland zwischen 0,6% bis 5,6%. Abhängig von der Studie findet man Prävalenzen zwischen 3,6% und 25% - mit grundsätzlich steigender Tendenz. Die Mineralisationsphase der Zahnkronen, die vom 8. Schwangerschaftsmonat bis zum 5. Lebensjahr stattfindet, ist bei diesen Zähnen stark gestört. Der Zahnschmelz sei wie ein Archiv, das die Bedingungen zu dieser Zeit dauerhaft und unwiderruflich aufzeichnet, schreiben die Forscher. Wissenschaftler vermuten, dass Ameloblasten - spezialisierte Zellen, die den Zahnschmelz bilden – bei MIH während dieser Phase teilweise irreversibel zerstört werden.
Wo liegen die Ursachen für eine MIH? Die zahlreichen Studien, die bis heute dazu durchgeführt wurden, kommen alle zum selben Ergebnis: Es stehen zwar Vermutungen im Raum, die eindeutige Ätiologie der MIH bleibt allerdings ungeklärt. Unter Wissenschaftlern werden derzeit Sauerstoffmangel bei oder nach der Geburt, chronisch-obstruktive Lungenerkrankungen, die frühe Gabe bestimmter Antibiotika, erhöhter Dioxingehalt oder polychloriertes Biphenyl (PCB) in der Muttermilch, Infektionserkrankungen wie Diphterie, Scharlach, Mumps, Masern sowie Störungen im Mineralhaushalt bedingt durch Malnutrition, Zöliakie oder Vitamin D-Hypovitaminose diskutiert. Auch multifaktorielle Ursachen sind derzeit Gegenstand der Ursachendiskussion. Bereits im Jahr 2004 stellten Wissenschaftler die Vermutung auf, dass freigesetzte Bestandteile von Trinkflaschen aus Kunststoff, insbesondere bei lang andauernder Nuckelgewohnheit, einen negativen Einfluss auf die Schmelzentwicklung haben könnten. Nun legen die Ergebnisse einer französischen Studie nahe, dass der Weichmacher Bisphenol A tatsächlich den Zahnschmelz nachhaltig schwächen könnte. Grund für Forschungsarbeiten sind nicht nur die steigende Belastung durch BPA und andere hormonähnliche Substanzen, sondern auch die Zunahme von MIH.
Zunächst testeten die Forscher an Ratten, wie sich BPA auf den Zahnschmelz auswirkt. Sie setzten die Tiere vor der Geburt und in den Wochen danach BPA-Konzentrationen aus, die um das Zehnfache niedriger waren als der von der EU festgelegte tägliche tolerierbare Wert von 50 Mikrogramm pro Kilogramm Körpergewicht. Nach einem Monat waren 75% aller Rattenzähne weiße Verfärbungen und brüchige Stellen. Untersuchten die Wissenschaftler die Zähne unter dem Mikroskop, stellten sie fest, dass die Veränderungen genau denen von menschlichen Zähnen bei MIH entsprechen: Der Zahnschmelz besitzt zu wenig Mineralien und zu viele organische Verbindungen – vor allem Proteine.
Bei näherer Betrachtung zeigt sich die Ursache des Problems: Die Bildung des Zahnschmelzes beginnt, indem der Zahn ein Proteingerüst aufbaut. Dieses dient den Mineralien später als Grundlage zum Ablagern. Sind alle Mineralien an Ort und Stelle, ist das Proteingerüst praktisch überflüssig und wird wieder abgebaut, damit sich der feste Zahnschmelz durch Kristallisation ausbilden kann. BPA stört diesen Prozess offenbar bei Ratten und Menschen in gleicher Weise: Unter BPA-Einfluss akkumulieren die Zähne im ersten Schritt zu viele Proteine, die im zweiten Schritt nicht richtig abgebaut werden können. So behindern sie die Kristallisation – der Zahnschmelz bleibt weich und brüchig. Was genau BPA auf molekularere Ebene auslöst, wollen die Wissenschaftler als Nächstes testen. Auch wenn die Versuche an Ratten kaum Zweifel aufkommen lassen, arbeiten die Forscher bereits am endgültigen Nachweis, dass BPA auch beim Menschen MIH auslöst. Zum 1. März 2011 hat das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz BPA im Zusammenhang mit Babyflaschen verboten, der Abverkauf bereits hergestellter Fläschchen mit diesem Stoff war bis Ende Mai 2011 gestattet. Auch in zahlreichen anderen Kunststoffen ist der Einsatz des Weichmachers BPA nach wie vor erlaubt.