Alle Jahre wieder kommt der Arzneimittelreport. Die Probleme bleiben die gleichen. Vor allem die Polypharmazie bei älteren Patienten ist ein Dauerbrenner. Bleibt als Hoffnung, Apotheker und Ärzte künftig besser zu vernetzen – schwer möglich ohne Tools wie die elektronische Gesundheitskarte.
Mit ihrem Arzneimittelreport zeigt die Barmer GEK aktuelle Trends bei Verordnungen auf. Professor Dr. Gerd Glaeske von der Universität Bremen untersuchte Daten von 9,1 Millionen Versicherten. Sein Fazit: Im Vergleich zu 2011 verordneten Ärzte in 2012 genau 2,16 Prozent weniger Arzneimittelpackungen, und Kosten sanken um 1,07 Prozent.
An der Spitze der Gesamtausgaben für Medikamente steht mit 2,36 Prozent Humira (Adalimumab). Dann folgen Enbrel (Etanercept) mit 1,70 Prozent und Copaxone (Glatirameracetat) mit 1,23 Prozent. Dicht dahinter liegen Avonex und Rebif (Interferone) mit jeweils 1,18 Prozent. Auf weiteren Spitzenplätzen sind Lyrica (Pregabalin) mit 1,07 Prozent sowie Glivec (Imatinib) mit 0,97 Prozent zu finden. Spiriva (Tiotropiumbromid, 0,96 Prozent), Symbicort (Budesonid /Formoterol, 0,95 Prozent) und Clexane (Enoxaparin-Natrium, 0,90 Prozent der Gesamtausgaben) kommen gleich danach. Hinsichtlich der Verordnungszahlen steht Bisoprolol-ratiopharm mit 1,44 Prozent an der Spitze, gefolgt von Metoprololsuccinat – 1A Pharma (1,30 Prozent), Ramipril ISIS (1,29 Prozent), L-Thyroxin Henning (1,23 Prozent) und Novaminsulfon Lichtenstein (1,13 Prozent).
Unter dem Strich ist die Bilanz aus Verschreibungen positiv: Aufgrund von Rabattverträgen und Generika wurden 42 Millionen Euro eigespart. So stieg die Generikaquote im letzten Jahr von 72 auf 75 Prozent. Darüber hinaus sind neue Verträge für 250 Wirkstoffe beziehungsweise Wirkstoffkombinationen im Portfolio. Mehrpartnermodelle mit Verordnungsalternativen sollen künftig die Compliance verbessern und Lieferungen garantieren, hofft die Barmer GEK. Deren stellvertretender Vorstandsvorsitzender Dr. Rolf-Ulrich Schlenker lobt vor allem das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetze (AMNOG) und warnt im gleichen Atemzug: Mit „andauernden lobbyistischen und juristischen Vorstößen der Pharmaindustrie“ sowie mit einer „überraschenden Aktion der Bundesregierung“ werde versucht, das Gesetz aufzuweichen. Stärkere Einflüsse von Firmen auf Vergleichstherapien im Zuge der frühen Nutzenbewertung lehnt er als „präjudizierende Effekte auf die spätere Preisfindung“ ab. Jetzt nachzulassen, wäre ein „falsches Signal“. Auch wünscht sich die Barmer GEK weiterhin Preismoratorien und erhöhte Herstellerrabatte. Schlenker forderte Regierungspolitiker deshalb auf, entsprechende Regelungen ab 2014 um weitere fünf Jahre zu verlängern – „Kostenbremsen sind keine Innovationsbremsen“. Vielmehr bewertet er die gesetzliche Krankenversicherung als „innovationsoffenes System“. Glaeske weist auf eine „dringend überfällige“ Prüfung des Bestandsmarkts hin, schließlich hätten Me-too-Präparate immer noch einen großen Anteil an den Ausgaben. Bei Lyrica, Seroquel, NovoRapid und Co. sieht der Forscher bis zu 300 Millionen Euro Einsparpotenzial.
Ein viel größeres Problem stellen überflüssige Verschreibungen dar. Glaeske fand bei Versicherten der Barmer GEK über 65, immerhin 2,1 Millionen Menschen, zahlreiche Auffälligkeiten. Jeder zweite Patient dieser Altersgruppe leidet an drei oder mehr Krankheiten. Von Polypharmazie mit fünf und mehr Wirkstoffen sind rund 33 Prozent betroffen. Besonders häufig: ACE-Hemmer, Betablocker und Diuretika. Einerseits befürchten Apotheker gefährliche Interaktionen, andererseits sinkt die Compliance erwiesenermaßen pro Wirkstoff. Hinzu kommt, dass Ärzte eine verminderte Leber- und Nierentätigkeit in vielen Fällen nicht ausreichend berücksichtigen, heißt es im Report. Kein Wunder, dass jede zehnte Klinikeinweisung betagter Patienten auf Wechselwirkungen oder unerwünschte Effekte zurückzuführen ist. Bleibt nur, die allseits bekannte Priscus-Liste stärker zu nutzen und Medikationen nach Möglichkeit auf vier bis fünf Wirkstoffe zu beschränken. Mittelfristig äußern Versorgungsforscher den frommen Wunsch nach einer Leitlinie bei Multimorbidität, vorausgesetzt, es gibt methodisch hochwertige Studien mit Senioren.
Multimorbide Patienten würden von einer elektronischen Gesundheitskarte mit erweiterten Funktionen wie dem elektronischen Rezept stark profitieren. Damit ließen sich Doppeltverordnungen vermeiden, und Apotheker könnten komplette Medikationspläne erstellen. Widerstand kommt vor allem aus der Medizin: „Manche Funktionäre von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung malen den Teufel an die Wand“, kritisiert Schlenker. „Aus Angst vor der vermeintlichen Datenhoheit und Steuerungsgewalt der Kassen torpediert man seit Jahren den Aufbau der Telematikinfrastruktur.“ Im europäischen Vergleich ist Deutschland mittlerweile zum Schlusslicht geworden – ohne Perspektive: Das ambitionierte ABDA-KBV-Modell gerät mehr und mehr in Schieflage, nachdem sich Sachsens Hausärzte gegen eine Umsetzung entschieden. Zwar laufen entsprechende Vorbereitungen unvermindert weiter, jedoch mit ungewissem Ausgang.
Bei Kindern und Jugendlichen beobachtet Glaeske ebenfalls gefährliche Entwicklungen: Von 2005 bis 2012 ist der Verbrauch von Antipsychotika um 41 Prozent nach oben gegangen – vor allem bei den 10- bis 14-Jährigen. Mit 48,0 Prozent aller Diagnosen stehen hyperkinetische Störungen an der Spitze, gefolgt von Störungen des Sozialverhaltens (29,3 Prozent), Depressionen (25,7 Prozent) und Angststörungen (19,1 Prozent). Mit diesem Thema befasste sich auch der Barmer GEK Arztreport 2013: Zwischen 2006 und 2011 stieg die Zahl diagnostizierter Aufmerksamkeits- beziehungsweise Hyperaktivitätsstörungen bei Kindern und Jugendlichen von 2,92 auf 4,14 Prozent. Eine medizinische Erklärung bleiben Forscher aber schuldig: Weder hätten sich Therapieempfehlungen geändert, noch sei die Zahl an Patienten mit psychiatrischen Störungen angestiegen, so Glaeske. Doch es gibt bemerkenswerte Korrelationen: Je höher das Ausbildungsniveau der Erziehungsberechtigten ist, desto seltener diagnostizieren Pädiater ADHS. Andererseits sind Kinder mit einem Elternteil zwischen 20 und 24 Jahren 1,5 Mal häufiger von der Krankheit betroffen als Sprösslinge mit Eltern zwischen 30 und 35 Jahren. Auf Kassenrezepten stehen verstärkt Neuzulassungen (plus 129 Prozent), während etablierte Präparate seltener verordnet werden. Schlenker bewertet Medikamente gegen Erziehungsprobleme als „falschen Weg“. Er verweist auf Alternativen wie Elterntraining oder Verhaltenstherapie.
Das Thema betrifft nicht nur Kinder, sondern auch Senioren. Zwischen 65 und 74 Jahren nahmen beispielsweise 8,3 Prozent aller Versicherten Benzodiazepine ein, unter Demenzkrankten waren es sogar 16,4 Prozent. Bleibt zu vermuten, dass viele Patienten Präparate nur bekommen, um Entzugssymptome zu lindern. Glaeske warnt, dass sich unter dieser Medikation häufiger Demenzen entwickeln - ein Teufelskreislauf.
Für Apotheker zeigen alle jetzt vorgestellten Daten ganz deutlich, dass ein häufig geforderter Paradigmenwechsel zu vollziehen ist: weg von der verlängerten Hand des Arztes, hin zur patientenorientierten Pharmazie. In den USA stehen Konzepte wie das Medication Therapy Management längst auf der Tagesordnung. Auch die ABDA will spätestens zum Deutschen Apothekertag im Herbst ein neues Leitbild präsentieren.