Auf dem "Forum Sucht"-Kongress wird seit einiger Zeit mit neuen Vortragsmethoden jongliert. Die wichtigen Themen Substitution und Rollenkonflikte seitens des behandelnden Arztes wurden dabei kontrovers diskutiert. Zeit für einen Wandel in der Suchtmedizin?
Das Forum Sucht in Kassel fand bereits zum dritten Mal statt. Die 160 Teilnehmer wussten meist, worauf sie sich einlassen, einige waren dennoch überrascht, dass es keine festen Themen und keine Vortragenden gab. Nach dem Zufallsprinzip (jeder musste einen farbigen Ball ziehen) wurden die Teilnehmer in 6 Gruppen eingeteilt. In jeder Gruppe waren Ärzte, Psychologen, Apotheker, Sozialtherapeuten und MFA. Alle Teilnehmer sind in der Suchtmedizin tätig. Jede Gruppe hatte einen Moderator, der die Gruppen unterstützte. In der ersten Phase wurden Themen und Fragestellungen gesucht und gefunden, die die Gruppe einen Nachmittag und einen Tag bearbeiten sollte. Die Fragestellungen waren so umfangreich, dass sich die Gruppen erneut in vier kleinere zergliederten. Welches ist für wen das richtige Substitutionsmittel? Sind Benzodiazepine Teufelswerk in der Therapie Opiatabhängiger? Wer schützt die Therapeuten vor Frustration und Burnout? Wie sieht eine effiziente Gewaltprävention in der Praxis aus? Welche Deeskalationsstrategien existieren?
Bei den meisten Kongressen konsumiert der Teilnehmer passiv Wissen: Referent – Beamer – Powerpoint, so die didaktische Troika. Beim "Forum Sucht" ist der Weg das Ziel, aber auch das Ziel das Ziel. Die Teilnehmer haben nach eigenen Angaben immens vom interdisziplinären, multiprofessionellen Meinungsaustausch profitiert. „Jetzt verstehe ich endlich, warum einige Patienten unter einigen Substituten so aggressiv reagieren“ so eine Sozialpädagogin. Das Ziel war aber auch der „Marktplatz der Perspektiven“. In dieser Phase durften die Gruppen ihre Ergebnisse als Rollenspiel, Quiz, Vortrag, Flipchart oder Stellwand allen Gruppen präsentieren. Und was gehört zu einem Marktplatz? Obst und Kittelschürzen. Beides war vorhanden, der Präsentator der Gruppe trug eine grüne Schürze und „verkaufte“ sein Produkt, die Früchte seiner Session. Viele etablierte Ziele wurden über den Haufen geworfen. Substanzfreiheit als Ziel der Substitution? Nein, Lebensqualität und Verzicht auf illegale Drogen, nicht auf Substitute. Das Ergebnis wurde von zwei jungen Sozialarbeitern präsentiert.
„Ich muss bei meinen Patienten so viele Rollen spielen, dass ich mich selbst manchmal darin verliere“, so ein Psychiater. Heiß wurde diskutiert, wie sich Therapeuten in der Suchttherapie vor Rollenkonflikten und Schäden schützen können. „Ich sag denen offen, wenn es mir schlecht geht und der Patient zum Reden am nächsten Tag wiederkommen soll“, teilte ein Arzt seinem Kollegen mit und stieß auf Unverständnis. „Du musst Dich doch abgrenzen und Profi sein, deine Gefühle haben in der Praxis nichts zu suchen“. Genau dieser Informationsaustausch macht nachdenklich und gibt Raum für neue Denkansätze. „Sehen und erfahren, wie es die Anderen machen“ war für viele Motivation für die Teilnahme. Ein derartiges Konzept ist enorm aufwendig, logistisch und finanziell. Die Industrie hat die Möglichkeit zu Satellitensymposien genutzt und die Teilnehmerbeiträge mitfinanziert. In den Foren selbst war industriefreie Zone. „Wir müssen draußen bleiben“ - so das Motto für die Pharmafirmen.
Auch auf diesem Kongress sind die extrem motivierten und engagierten MFAs aufgefallen, die manchmal als rechte und gleichzeitig linke Hand des Arztes den Suchtpatienten betreuen. Im Plenum und in den Diskussionen wurde von den „Arzthelferinnen“ der Wunsch nach Qualifikation und Anerkennung deutlich. „Wir brauchen endlich eine Fachkraft für Suchtmedizin“, so die Meinung einer Teilnehmerin, die dafür tosenden Applaus bekam. Für Teilnehmer und Moderatoren war der Kongress eine spannende Erfahrung. „Wirklich erstaunlich fand ich die Erfahrung, wie schwer es den Leuten fällt, sich in die Gefühle anderer zu versetzen: wie es sich wohl anfühlen mag „depressiv“ oder „borderline“ zu leben, wurde durchgängig mit Symptombeschreibungen umschrieben“, so einer der Moderatoren, der Suchtmediziner Chaim Jellinek aus Berlin.
Eine Gruppe traute sich auf die große Bühne. Die Sozialpädagogin Kerstin Dahl, die Allgemeinmedizinerin Dr. Katrin Rudewig und der Assistenzarzt der Psychiatrie Malte Beissert haben als Thema den Stellenwert der Benzodiazepine in der Substitutionsmedizin bearbeitet. Nach dem Motto „Kann, muss, soll, darf?“ wurden Thesen für einen vernünftigen Umgang mit den Psychopharmaka aufgestellt. „Benzodiazepine wirken Wunder, helfen bei Perspektivlosigkeit, entlasten das Personal, warum also eigentlich keine Benzos?“. Die Polemik von Malte Beissert wurde rasch erkannt. 60 Prozent der Methadonsubstituierten leiden unter Schlafstörungen. Das Opiat löst ein RBD-Syndrom aus. Diese REM-Sleep-Behavior-Disorder lässt die Patienten nicht durchschlafen. Als Eigentherapie werden Benzodiazepine konsumiert. Nicht, um „toll draufzusein“, sondern um schlafen zu können oder Ängste zu unterdrücken. Also ein Freibrief für die Mittel? Nein! Man erkauft sich damit eine zweite Sucht und steigert massiv die Gefahr einer opiatbedingten Atemdepression. Nicht selten werden als Alternativen die so genannten Z-Substanzen empfohlen. Zolpidem und Zopiclon greifen jedoch am selben Rezeptor wie Diazepam & Co an. Ein Vorteil ist lediglich die kürzere Wirkdauer. Andere Nebenwirkungen und das Abhängigkeitspotenzial sind mit den Benzodiazepinen vergleichbar. Zurückhaltend sollte mit Zolpidem umgegangen werden, es kann den Methadonspiegel um 200 – 300 Prozent boosten. Die Gruppe formulierte griffig und prägnant: „Wenn Benzos bei Substitution, dann Zopiclon“.
Klar positionierten sich die Gruppenmitglieder dafür, dass Benzodiazepine insgesamt sehr zurückhaltend in der Opiatsubstitution eingesetzt werden, als Ausnahme. Und wenn, dann nur auf Kassenrezept, damit die KV eine Kontrollmöglichkeit hat. Um das weiter zu verstärken, wurde gefordert, alle Benzodiazepine für Suchtpatienten grundsätzlich auf BtM-Rezept zu verordnen. Viele Landesärztekammern beziehen eine eindeutige Position: „Die Verordnung von Benzodiazepinen an Suchtkranke gilt generell als kontraindiziert. Die Gefahr ist groß, dass auch eine Abhängigkeit von Benzodiazepinen induziert wird“, so beispielsweise die Ärztekammer Nordrhein. Die Kammer rät dazu, sedierende Antidepressiva oder niederpotente Neuroleptika einzusetzen. Sollte ein Benzodiazepin zwingend notwendig sein, sollte eine Zweitmeinung eingeholt und dokumentiert werden. Die Teilnehmergruppe geht noch einen Schritt weiter und fordert bei einer Benzodiazepinverschreibung an Suchtkranke die schriftliche Vorstellung des Patienten vor einer Kommission, die aus Psychiater, Suchtmediziner und Sozialarbeiter besteht. Das Thema bleibt schwierig, echte Alternativen als Hypnotika sind nicht vorhanden. Pregabalin und Doxepin sollte der Arzt von seinem Verordnungsverhalten streichen, beide Substanzen können mit Methadon interagieren und die Gefahr einer Atemdepression steigern. Promethazin und Mirtazapin scheinen möglich zu sein.