Tausende bewerben sich jährlich vergeblich auf einen Medizinstudienplatz. Die meisten müssen lange warten – manchmal mehr als sieben Jahre. Jetzt prüft das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, ob der Numerus clausus als Auswahlkriterium gegen das Grundgesetz verstößt.
Mit der Frage, ob der Numerus clausus als Zulassungsvoraussetzung für das Medizinstudium mit dem Grundgesetz vereinbar ist, befasst sich derzeit das Bundesverfassungsgericht. Der Grund: Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen fand, die bisherige Regelung verstoße gegen das Grundgesetz und wandte sich an die oberste gerichtliche Instanz. Die Richter in Karlsruhe holen derzeit die Meinungen von Hochschulen, Verbänden und Gewerkschaften ein, am 4. Oktober wird es dann eine öffentliche Anhörung geben. Studienplätze der Humanmedizin sind begehrt: Im Wintersemester 2014/2015 bewarben sich rund 43.000 Bewerber auf 9.000 Studienplätze, so das Gericht, die Wartezeit betrage 15 Semester – das sind mehr als sieben Jahre. „Derzeit vergibt die Stiftung für Hochschulzulassung die Studienplätze für die Studiengänge Medizin, Zahnmedizin, Tiermedizin und Pharmazie im Zentralen Vergabeverfahren,“ sagt Verena Hoppe, Sprecherin des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen und somit des Verwaltungsgerichts: „20 Prozent der Studienplätze werden in der Abiturbestenquote, weitere 20 Prozent der Studienplätze in der Wartezeitquote und 60 Prozent der Studienplätze im Auswahlverfahren der Hochschulen vergeben.“ Innerhalb der Abiturbestenquote bestehe keine bundeseinheitliche Notenrangliste, so Hoppe, es werde für jedes Bundesland getrennt eine eigene Notenrangliste aufgestellt. „Das Abitur wird bundeseinheitlich von allen Ländern als Studienberechtigung anerkannt. Der Verzicht auf eine bundeseinheitliche Notenrangliste aber wird damit begründet, dass die unterschiedlichen Schulsysteme zu einer Verzerrung der Konkurrenz führen könnten“, so die Sprecherin.
Die Abiturbestenquote ergibt sich aus den besten Noten und, bei gleicher Note, der Wartezeit. „Die Stiftung für Hochschulzulassung stellt nun für jedes Bundesland getrennt eine Rangliste auf“, erklärt Pressesprecher Patrick Holtermann: „Die für die Abiturbesten verfügbaren Studienplätze jeder Universität werden addiert und nach einem festgelegten Schlüssel auf die einzelnen Bundesländer aufgeteilt. Um diese Plätze konkurrieren die Abiturienten, die in diesem Bundesland Abitur gemacht haben. Am Ende dieses Auswahlverfahrens stehen dann 16 manchmal unterschiedliche Auswahlgrenzen (Landes-NC).“ Durch dieses Verfahren werde gewährleistet, dass nur Studienbewerber eines Landes miteinander konkurrieren, die unter gleichen Lehrplanbedingungen ihre Studienberechtigung erworben haben, sagt Holtermann: „Jede der drei Hauptquoten besitzt ihre eigene Systematik. Landesquoten kommen nur beim Prozess der Abiturbestenquote zum Einsatz.“
Die Richter in Gelsenkirchen sehen in der jetzigen Regelung gleich mehrere Kritikpunkte. Zum Einen befanden sie, die Abiturnoten seien bundesweit nicht vergleichbar, so dass es unterschiedliche Landesquoten brauche, damit das System gerecht sei. Diese Aussage bezieht sich aber auf das eigene Auswahlverfahren der Hochschulen, die keine Landesquoten bilden, sondern 60 Prozent der Studienplätze über Abiturbestenquote und der Wartezeitquote vergeben. Zum Zweiten kritisiert das Verwaltungsgericht, dass die Abiturnote selbst eine zu große Rolle bei der Auswahl geeigneter Bewerber spielt. Zudem stellten sie infrage, ob die Rechtssprechung insgesamt fortentwickelt werden müsse: Das Bundesverfassungsgericht hatte zuletzt 1972 entsprechende Kriterien ausgearbeitet auf der Grundlage des in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Rechts auf freie Wahl des Berufes. Daraus resultierte ein Recht auf Zulassung zum Hochschulstudium und die Auflage, die Auswahl der Bewerber müsse sachgerecht sein und jedem eine Chance bieten.
Die Gelsenkirchener Richter stehen damit nicht allein da: Der Deutsche Hochschulverband (DHV) etwa hält die derzeitige prädominante Orientierung an der Abiturnote für nicht zielführend: „Die Durchschnittsnoten der Abiturzeugnisse differieren in den Bundesländern um bis zu einer halben Note“, so Sprecher Matthias Jaroch. Eine Landesquote auch bei den Hochschulen solle die Differenz ausgleichen. Zudem möchte der DHV persönliche Auswahlgespräche einführen, damit neben den intellektuellen Fähigkeiten auch die soziale und empathische Kompetenz geprüft werde: „Die Studienmotivation und die charakterliche Eignung, die für ein vertrauensvolles Arzt-Patienten-Verhältnis erforderlich ist, können durch die Abiturdurchschnittsnote allein nicht abgebildet werden“, meint Jaroch.
Die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd) findet, die Wartezeitquote erfülle zwar das Grundrecht auf freie Berufswahl, es könne aber bei einer Wartezeit von mittlerweile 13 Semestern kaum noch von zumutbaren Kriterien gesprochen werden. „Das aktuelle Verfahren der Wartezeitquote muss also dringend in ein anderes Verfahren überführt werden, das für Medizinstudium gut geeignete Bewerber schon frühzeitig erkennt“, sagt Isabel Molwitz, Vizepräsidentin für Externes. „Gute Abiturnoten gehen nicht zwangsläufig mit guten Studienleistungen einher, auch wenn ein Zusammenhang zwischen der Abiturdurchschnittsnote und dem erfolgreichen Abschluss des Medizinstudiums besteht“, so Molwitz. Die bvmd lehne die Abiturbestenquote ab, da so keine Aussage über die Eignung zum Medizinstudium getroffen werden könne. „Wir fordern daher schon seit Jahren eine grundlegende Reform des Auswahlverfahrens zum Medizinstudium, weg von der bisherigen Vergabe der Studienplätze in den drei Quoten, hin zu einem einheitlichen Auswahlverfahren unter Berücksichtigung verschiedener Kriterien, dass allen Bewerbern mit Hochschulzulassung eine faire Chance einräumt“, sagt Molwitz.
Ähnlich sieht es der Marburger Bund: „Der stark gestiegene NC und die zunehmende Zahl notwendiger Wartesemester haben berechtigte Zweifel an der bisherigen Studienplatzvergabe im Fach Humanmedizin hervorgerufen“, sagt Sprecher Hans-Jörg Freese. Er plädiert für eine neue Quote, bestehend aus Abiturnote und Auswahlverfahren der Hochschulen. „Darin sollen die Ergebnisse des Schulabschlusses niedriger und Auswahlkriterien mit entsprechender Aussagekraft, wie beispielsweise Sozialkompetenz und Motivation, stärker und möglichst bundeseinheitlich berücksichtigt werden“, so Freese. Der Marburger Bund halte es auch versorgungspolitisch für problematisch, die Studienkapazitäten auf einem Niveau einzufrieren, wie es Mitte der 1980er Jahre in der Zeit vor der Deutschen Einheit bestand. Nehme man diesen Stand zum Maßstab, so müssten heute unter Einbeziehung der medizinischen Fakultäten in den ostdeutschen Bundesländern rechnerisch mindestens 16.000 Plätze pro Jahr zur Verfügung stehen. „Stattdessen gibt es gegenwärtig jährlich etwa 10.600 Plätze für Studienanfänger“, sagt Freese, „dabei wächst der Ersatzbedarf an Ärzten von Jahr zu Jahr, nicht nur wegen des allgemeinen demografischen Wandels, sondern vor allem auch wegen der Ruhestandswelle, die auf die Ärzteschaft zurollt, wenn die Babyboomer-Generation in zehn bis 15 Jahren aus dem Beruf ausscheidet.“ Der Marburger Bund ist für eine Erhöhung der Anzahl der Studienplätze um mindestens zehn Prozent.
Die bvmd macht es konkret: Zusammen mit dem Medizinischen Fakultätentag (MFT) hat sie ein Konzept zur Reform der Zulassung erarbeitet. „Die bisher bestehenden drei Quoten für die Abiturbesten, das Auswahlverfahren der Hochschulen (AdH) und die Wartezeitquote sollten zu einer zentralen deutschlandweiten Auswahlstufe zusammengeführt werden,“ heißt es in der aktuellen Pressemitteilung der bvmd vom 23. August 2017. Gemeinsam schlagen sie vor, bei der Auswahl in unterschiedlicher Gewichtung die Abiturdurchschnittsnote, Studierfähigkeitstest (TMS, HAM-Nat), berufspraktische Erfahrung oder einen staatlich anerkannten Freiwilligendienst zu berücksichtigen. Für diese Kriterien würden jeweils Punkte vergeben und daraus eine bundesweite Reihenfolge der Bewerber erstellt. Für Tausende Bewerber, die aktuell auf einen Studienplatz hoffen, ist eine schnelle Lösung nicht in Sicht: „Nach der Anhörung am 4. Oktober gehen sicher noch einige Monate ins Land, bevor das Bundesverfassungsgericht zu einem Urteil kommt“, sagt Pressesprecher Michael Allmendinger. Umgesetzt werden müsste es anschließend dann auch noch.