Mediziner sind Anwälte der Gesundheit. Sie sollen heilen und Menschen auf eine gesunde Lebensweise aufmerksam machen. Ärzte sollen Vorbilder für ihre Patienten sein. Doch wie wichtig ist heutzutage die Vorbildfunktion eines Arztes wirklich?
Als Arzt hat man jede Menge Verantwortung für seine Patienten. Nicht nur, dass man versuchen muss, die richtige Diagnose einer Krankheit zu erstellen und geeignete Therapiemaßnahmen zu ergreifen, um das Leiden zu verringern. Nein, man muss zugleich auch darauf achten, wie man auf seine Patienten wirkt. Denn das eigene Verhalten hat Auswirkungen auf das Verhalten der Patienten – mit anderen Worten: man hat als Arzt eine Vorbildfunktion. Und damit ist nicht nur gemeint, dass man einen gesunden Lebensstil ohne Rauchen und Trinken, mit viel Sport und gesunder Ernährung führen sollte. Auch in Bezug auf die eigene Gesundheitsvorsorge hat sich erwiesen, dass Patienten ihre Ärzte nachahmen. Erst im April verglichen kanadische und israelische Wissenschaftler das Gesundheitsverhalten von Ärzten und deren Patienten und konnten zeigen, dass die Patienten präventionsbewusster Ärzte - also solcher, die sich selbst impfen lassen und zur Früherkennung gehen - ebenfalls häufiger geimpft sind und an Screening-Untersuchungen teilnehmen. Sie untersuchten dazu knapp 1.500 Ärzte und fast 1,9 Millionen ihrer Patienten in Bezug auf das Impfverhalten bei Influenza und Pneumokokken, sowie Vorsorgeuntersuchungen wie Mammografie und Koloskopie oder die Bestimmung von LDL-Werten und Blutdruckmessungen. Besonders deutlich zeigte sich das signifikante Ergebnis bei der Grippeimpfung: 49,1 Prozent der Patienten von geimpften Ärzten erhielten sie, aber nur 43,2 Prozent der Patienten von nicht geimpften Ärzten. Etwas weniger ausgeprägt stellt sich der Trend bei Mammografie-Untersuchungen dar: bei Ärztinnen, die selbst Brustkrebsvorsorge betrieben, taten dies auch 69,5 Prozent der Patientinnen, während bei Ärztinnen ohne Screening-Teilnahme nur 66,7 Prozent der Frauen an Mammografie-Untersuchungen teilnahmen – ebenso viele wie bei den männlichen Kollegen. Bedeutet das also, dass die Gesundheit der Patienten vom Präventionsverhalten der Ärzte abhängt?
Ja, meint zumindest die kanadisch-israelische Forschergruppe. Sie weist darauf hin, dass es weltweit so gut wie keine Programme zur systematischen Förderung der Ärztegesundheit gibt. Bestehende Maßnahmen konzentrierten sich fast ausschließlich auf psychische Aspekte der beruflichen Belastung. Deswegen sind sie der Meinung, dass man das Präventionsverhalten der Ärzte viel stärker fördern sollte, weil davon auch die Gesundheit der Patienten profitieren könnte. Der Unterschied zu bisherigen Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen der Gesundheitsvorsorge von Medizinstudenten und Ärzten und der ihrer Patienten liegt darin, dass diese bisher immer auf den Selbstauskünften der Mediziner beruhten. Jetzt liegt erstmals eine Untersuchung vor, in der das Präventionsverhalten der Ärzte objektiv erfasst wurde, da die Ärzte selbst auch Patienten im System des untersuchten israelischen Gesundheitsdienstes Clalit sind und damit bekannt war, ob sie selbst Vorsorgeuntersuchungen oder Impfungen in Anspruch genommen hatten. Das eigene Verhalten fließt also ganz natürlich in die Arzt-Patienten-Kommunikation mit ein. Andere Studien zur Vorbildfunktion von Ärzten haben beispielsweise ergeben, dass sportlich aktive Ärzte ihre Patienten häufiger dazu anregen, Sport zu treiben, während gemütlichere Doktoren Ratschläge zur körperlichen Aktivität und Gewichtsabnahme weniger überzeugend erteilen. Ähnliche Zusammenhänge dürften also auch für Präventionsmaßnahmen gelten. Zwar liegen bisher keine vergleichbaren Studien für Deutschland vor, dennoch sind die Befunde der kanadisch-israelischen Studie auch für uns relevant, da Ärzte überall auf der Welt eine wichtige Rolle in der Vermittlung und Unterstützung von Präventionsangeboten haben. Überschätzen sollte man den Einfluss der Ärzte auf das Präventionsverhalten der Patienten aber auch nicht, meint Prof. Dr. Hajo Zeeb, Leiter der Abteilung für Prävention und Epidemiologie am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie. „Natürlich findet Prävention und Gesundheitsförderung vielfach außerhalb von Arztpraxen – in Schule, beruflichem Umfeld, Vereinen – statt, wo sie nicht nur Patienten, sondern vor allem auch Gesunde erreichen, die natürlich gesund bleiben sollen“. Effektive Präventionsarbeit kann also nicht nur über den Arzt und sein eigenes Verhalten geleistet werden. Bewährt hat sich seit langem zudem die Massenkommunikation über Plakate, Fernsehspots, Anzeigen und Großveranstaltungen, beispielsweise in der Prävention von HIV oder Brustkrebs.
Die Patienten stellen einen gewissen Anspruch an den behandelnden Arzt, wenn es um das eigene Gesundheitsverhalten geht. Deshalb ist es wichtig, dass Medizinstudenten im Laufe ihres Studiums schon so früh wie möglich lernen, mit der Rolle als Vorbild umzugehen. Wir haben einige Medizinstudenten dazu befragt. Stefan Krieg, Regensburger Medizinstudent, ist von der Vorbildfunktion der Ärzte nicht überzeugt: „Ärzte, die selbst von Prävention überzeugt sind, legen das ihren Patienten natürlich auch nahe, das ist ja klar. Aber das eigene Gesundheitsverhalten sollte im Idealfall eigentlich recht unabhängig sein. Es kann den Patienten ja vollkommen egal sein, ob der Arzt nun gesund lebt oder nicht. Hauptsache der Mediziner findet eine geeignete Therapie für die Krankheit. Wie er das macht, ist ja ihm überlassen. Es gilt: der beste Friseur hat höchstens die zweitbeste Frisur.“ Auch Fernanda Gonzalez, eine Kommilitonin von Stefan, teilt dessen Meinung: „Ich persönlich denke nicht, dass Ärzte oder medizinisches Personal insgesamt dazu angehalten werden sollten, „vorbildlich“ zu leben. Mediziner sind ja auch nur Menschen und die können im Rahmen des Gesetzes genauso viel tun oder lassen, wie jeder andere auch. Im stressigen Berufsalltag eines Arztes ist es ja oftmals auch gar nicht möglich, diese Ansprüche, wie z. B. viel Bewegung und gesunde, ausgewogene Ernährung, viel Schlaf etc., zu erfüllen. Außerdem ist der vorbildlichste Arzt, der nicht raucht und nicht trinkt, nicht immer beste Arzt, also einer der auch seine Patienten dazu motivieren kann. Ich habe im Krankenhaus die Erfahrung gemacht, dass man nicht unbedingt mehr erreicht, wenn man als leuchtendes Vorbild vorangeht. Ich persönlich würde sagen, dass ich einen sehr gesunden Lebensstil pflege. Schaue ich mir meine rauchenden, Alkohol trinkenden Kommilitonen an, die das ihren Patienten natürlich auch nicht auf die Nase binden, dann fällt mir auf, dass es den Durchschnittspatienten auch gar nicht interessiert, wie man als Arzt eigentlich lebt. Neulich habe ich mit einer COPDlerin gesprochen und versucht, sie davon zu überzeugen, wie schädlich Rauchen ist. Ich habe ihr erzählt, dass es nicht gut um sie steht und die Gefahren wie Amputationen, Gefäßverschlüsse sowie eingeschränkte Lebensqualität und Ausdauer waren ihr auch durchaus bewusst. Dennoch hat sie daran festgehalten, dass sie schon irgendwie verschont bleiben wird. Mit dem Rauchen aufhören wird sie nicht. Es hilft also leider rein gar nichts, wenn man als derjenige, der versucht zu überzeugen, selbst komplett rauchfrei ist und mit gutem Beispiel vorangeht.“
Julia Knappe, Medizinstudentin im 4. Semester aus München, sieht das jedoch ganz anders: „Es ist selbstverständlich schwierig, als Mediziner immer eine gesunde Lebensweise vorzuleben und sicherlich kann man es auch nicht verlangen. Ich persönlich finde es aber gut, wenn Ärzte sich an ihre eigenen Vorschläge halten. Es ist einfach sehr viel leichter, Patienten zu überzeugen, wenn man selbst vorlebt, was man ihnen empfiehlt. Insbesondere wenn es um Abnehmen und Raucherentwöhnung geht, denke ich, dass Patienten die Ratschläge viel eher befolgen, wenn der Arzt die Lebensweise auch verkörpert. Er ist viel überzeugender, wenn er selbst auch von dem überzeugt ist, was er sagt. Die Gefahr ist ja auch, dass der Patient dazu verleitet werden könnte, zu denken, dass Rauchen/Trinken/etc. ja nicht so schlimm sei, weil es der Arzt selbst macht.“ Auch Justus Liebig, der im achten Semester in Würzburg studiert, sieht das ähnlich: „Ich finde, dass man als Patient schon erwarten kann, dass ein Arzt einen allgemein gesunden Lebensstil vorlebt. Das dient nicht nur dazu, sich selbst zu schützen, sondern auch, um als behandelnder Mediziner authentisch zu sein. Ich würde mir echt scheinheilig vorkommen, wenn ich als Kettenraucher mit heiserer Stimme meinen Patienten bitten würde, mit dem Rauchen aufzuhören, da es ungesund sei. Dennoch sollte man aber als Arzt dem Patienten seine Meinung auch nicht aufzwingen. Patienten haben ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben; man kann nur gut gemeinte Ratschläge geben. Und das natürlich viel überzeugender, wenn man auch selbst lebt, was man predigt.“
Dass Ärzte nicht immer Vorbilder in Bezug auf die eigene Gesundheit sind, zeigt eine Untersuchung, die unter knapp 2.000 Ärzten durchgeführt wurde. Dabei stellte sich heraus, dass die Doktoren ganz schön außer Puste geraten, wenn sie auf ihre Fitness getestet werden. Und zwar schneller als der Durchschnittsbürger. Forscher um Professor Klaus Bös vom Institut für Sport und Sportwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie testeten die Ärzte auf ihre körperliche Leistungsfähigkeit und stellten fest, dass die männlichen Mediziner über alle Altersklassen hinweg schlechter abschnitten als der Normalbürger. Ärztinnen hingegen waren fitter als der durchschnittliche Deutsche. Wie soll aber ein übergewichtiger, unsportlicher Arzt seinem fettleibigen Patienten überzeugend eine Diät und mehr körperliche Bewegung anraten? Wenn Mediziner sich nicht an das halten, was sie ihren Patienten selbst empfehlen, wirken sie nicht gerade glaubhaft. Das mag keine Rolle spielen, wenn der Arzt Chirurg ist und die Patienten ihn sowieso nicht zu Gesicht bekommen. Aber vor allem bei Allgemeinmedizinern fällt es doch auf, wenn der nikotinabhängige, dicke Doktor vom Rauchen abraten will und zum Mittagessen Gemüse statt Schweinebraten empfiehlt. Schaut man sich die Zahlen für Arzneimittel- und Drogenmissbrauch unter Ärzten und Medizinstudenten an, sieht es nicht gerade besser aus. Etwa sieben Prozent der deutschen Ärzte sind einmal im Leben von Alkohol abhängig – doppelt so viele wie in der übrigen Bevölkerung. Auch bei der Nikotin- und Drogensucht ist es ähnlich.
Eine Studie, die vom Lehrstuhl für Allgemeinmedizin in Dresden zwischen 2004 und 2006 durchgeführt wurde, bestätigt die erschreckende Realität: viele Medizinstudenten gehen auffällig sorglos mit ihrer Gesundheit um, vor allem, wenn es um den Konsum von Tabak, Alkohol und illegalen Drogen geht. Besonders männliche Kommilitonen haben einen riskanten, auffällig hohen Alkoholkonsum und greifen dreimal häufiger als Medizinstudentinnen zum Gebrauch von illegalen Drogen. Insgesamt steigerte sich der Wert, der angibt wie viele der männlichen Studenten schon einmal Drogen konsumierten - der in früheren Befragungen bei fünf Prozent lag - auf nunmehr 44 Prozent. Als Grund wird der erhöhte Stressfaktor im Studium angegeben.
Bei bereits berufstätigen Medizinern werden psychischer und privater sowie berufsbedingter Stress und Depressionen als Grund für den Alkohol- und Medikamentenkonsum gesehen. Ärzte haben zudem nicht nur einen leichteren Zugang zu den gefährlichen Suchtmitteln, sondern auch das pharmakologisch-toxikologische Wissen über die Wirkungen und Grenzen von Arzneimitteln und Drogen. Ihr Wissen kann sie zu der Meinung verführen, Herr über die Suchtmittel zu sein und zu wissen, wie weit man bei ihrem Gebrauch gehen kann. Süchtige Ärzte können zwar ihren Patienten den Genuss von Zigaretten oder Alkohol oder Trinken verbieten, aber ein schlechtes Vorbild bleiben sie weiterhin. Dem Patienten ist damit nicht geholfen und die Fürsorge des Arztes verfehlt ihr Ziel. Natürlich kann nicht jeder Arzt jederzeit darauf achten, in allen möglichen Gesundheitsaspekten ein Vorbild für seine Patienten zu sein. Man hat ja auch noch ein Privatleben und das Recht, selbst zu entscheiden, welchen Lebensstil man führen möchte. Dennoch sollte man sich seiner Position bewusst sein und zumindest versuchen, eine etwas gesündere Lebensweise anzustreben. Durch den Beruf des Arztes erwirbt man gleichzeitig auch eine gewisse Verantwortung. Man ist schließlich „Gesundheitsexperte“ und sollte wissen, wie man möglichst lange gesund und munter lebt. Vielleicht ist dieser Anspruch zu hoch gegriffen und unerfüllbar, dennoch ist er in den Köpfen der Leute bis heute existent. Und ein paar mal im Jahr als Arzt zu Vorsorgeuntersuchungen zu gehen, damit die Patienten es einem gleich tun, ist nun auch kein großer Aufwand. Man lebt ja nicht nur für die Gesundheit der Patienten, auch die eigene Gesundheit wird davon profitieren. Weiterführende Links zum Thema: Guter Arzt werden und bleiben - Blog für Ärzte Videobeitrag - Dr. Vorbild