Tägliche ASS-Einnahme scheint effektiv vor manchen Krebsarten zu schützen, so die Studienlage. Wissenschaftler haben nun untersucht, welcher Mechanismus hinter den krebsverhindernden Eigenschaften von ASS stecken könnte.
Acetylsalicylsäure (ASS) scheint ein wahres Multitalent zu sein. Nach einem Schlaganfall oder Herzinfarkt verhindert der Wirkstoff das Verklumpen der Blutplättchen und auch gegen Fieber, Schmerzen und Entzündungen hilft der Gerinnungshemmer.
In den letzten Jahren häuften sich die Hinweise, dass die tägliche Einnahme von ASS sogar vor Krebs schützen kann. Anfang 2012 hatte eine in „The Lancet“ veröffentlichte Metastudie die Medizinwelt in Euphorie versetzt: Dort hatten Wissenschaftler 51 Studien analysiert, die eigentlich einen Zusammenhang zwischen der täglichen Einnahme von ASS und dem Risiko für Gefäßerkrankungen untersuchten. Dabei stellten sie fest, dass ASS offenbar auch das Risiko senkt, an Krebs zu sterben. Der beobachtete Effekt war nahezu umwerfend: Im Beobachtungszeitraum von fünf Jahren konnte die tägliche Einnahme von ASS das Risiko, an Krebs zu sterben, um bis zu 37 Prozent senken.
Dass ASS irgendwie gut gegen Krebs ist, ist keine besonders neue Erkenntnis. Vermutungen dazu gibt es schon seit mehr als 20 Jahren. Die Langzeitstudie dazu wurde im Januar 2011 ebenfalls in „The Lancet“ veröffentlicht. Sie zeigte ein um 21 Prozent verringertes Risiko für einen Krebstod bei Probanden, die mindestens vier Jahre lang täglich eine geringe Dosis ASS (75 Milligramm) zu sich genommen hatten. Die Kontrollgruppe hatte ein Placebo bekommen. Die geringere Sterblichkeitsrate blieb auch noch 20 Jahre nach der Behandlung mit ASS konstant, berichteten die Mediziner. Der Effekt verbesserte sich sogar mit zunehmendem Alter der Patienten und Dauer der ASS-Einnahme.
Mitte 2012 erschien eine weitere Metastudie, die sich mit dem Potential von ASS bei der Krebsprävention befasste. Dabei werteten Wissenschaftler die Daten von mehr als 100.000 Frauen und Männern aus, die an der amerikanischen Cancer Prevention Study II teilgenommen hatten. Hier konnte die tägliche ASS-Einnahme das Risiko, an Krebs zu sterben allerdings nur um 16 Prozent verringern. „Man kann nun sicher sagen, dass Aspirin die Sterblichkeit an Krebs und das Ausmaß der Krebserkrankungen reduziert“, äußerte sich Bernhard Wörmann, medizinischer Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO) damals gegenüber dem Spiegel. „Im Vergleich zur ersten Studie [um 37% gesenktes Risiko] holt es uns allerdings in die Realität zurück. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo dazwischen.“
Auch wenn die Studienergebnisse zahlenmäßig nicht ganz konform sind, wird der positive Effekt von ASS in Bezug auf die Krebssterblichkeit deutlich. Woran dieser begründet liegt, war bisher noch unklar. Jetzt haben Wissenschaftler erforscht, welcher Mechanismus hinter den krebsverhindernden Eigenschaften von ASS stecken könnte. In einer Studie untersuchte ein Team aus Genetikern und Gastroenterologen Biopsieproben von 13 Patienten, bei denen die Krebsvorstufe Barrett-Ösophagus festgestellt worden war. So bezeichnet man eine metaplastische Umwandlung des Epithels der Speiseröhre. Die Wissenschaftler untersuchten den Krankheitsverlauf der Patienten und die Mutationsrate im Barrett-Ösophagus zwischen 6 und 13 Jahre lang anhand von 161 Patienten-Biposien. Ziel der Studie war es, die Mutationsrate in Gewebeproben zu verschiedenen Zeitpunkten nach der ASS-Einnahme zu erfassen. „Das ist die erste Studie, die die genomweite Mutationsrate eines prämalignen Gewebes über mehr als ein Jahrzehnt untersucht. Und die erste, die evaluiert, wie Aspirin diese Mutationsraten beeinflusst“, so Dr. Carlo Maley, einer der Studienautoren von der University of California San Francisco, USA.
Elf der 13 Studienpatienten hatten in den letzten durchschnittlich sechs Jahren keine nichtsteroidalen entzündungshemmenden Medikamente (NSAIDs) eingenommen und während der Studie damit begonnen, täglich Aspirin über durchschnittlich fünfeinhalb Jahre hinweg einzunehmen. Zwei Patienten hatten bereits über durchschnittlich drei Jahre NSAIDs eingenommen und dann für die nächsten knapp 8 Jahre auf deren Einnahme verzichtet. So konnten die Wissenschaftler die Mutationsraten bei verschiedenen Einnahmemustern von ASS am Modell der Krebsvorstufe Barrett-Ösophagus untersuchen. Geschlecht und ethnische Verteilung der Studienpatienten berücksichtigten die bekannte Demographie von Speiseröhrenkrebs. „Dieser betrifft hauptsächlich weiße Männer mittleren Alters“, so Maley. Ein Barrett-Ösophagus entwickle sich aber nur selten zu Speiseröhrenkrebs. Studien deuten darauf hin, dass das Risiko für die Ausbildung eines Adenokarzinoms, des sogenannten Barrett-Karzinoms, auf Boden eines Barrett-Ösophagus zwischen 0,12 und 1,5 Prozent pro Patientenjahr liegt. Weitere Studien hatten gezeigt, dass die Einnahme von NSAIDs dieses Risiko signifikant reduzieren kann. Die Gewebeproben von 11 der 13 Patienten zeigten, dass die Mutationsrate durch die Einnahme von ASS um das 10fache abnahm. Ein Patient, bei dem dies nicht der Fall war, erhielt im Verlauf der Studie die Diagnose Speiseröhrenkrebs. „Wahrscheinlich wirkt ASS nicht bei allen Menschen gleich“, vermuten die Studienautoren als Grund dafür. Eine Studie mit mehr Probanden könnte diese Frage klären.
„Krebs ist eine Krankheit, die sich über Jahrzehnte als Ergebnis zahlreicher Abnormalitäten im Genom von ansonsten normalen Zellen entwickelt“, schreiben die Wissenschaftler. In Krebsgewebe kommen Mutationen sehr viel häufiger vor als in gesundem Gewebe. Dabei mutieren unterschiedliche Zellgruppen innerhalb eines Tumors auf verschiedene Art und Weise. Irgendwann bringen Schlüsselmutationen das Wachstum der Tumorzellen außer Kontrolle. „Die unterschiedlichen Mutationen tragen außerdem zur Medikamentenresistenz bei“, so die Wissenschaftler weiter. „Denn erst wenn ein Tumor durch zahlreiche Mutationen gut an Behandlungen angepasst ist, kann er leicht eine Population von Zellklonen hervorbringen, die wiederum prima überleben und wachsen“, so Maley. Tumore mit – dank ASS - geringen Mutationsraten seien schlecht angepasst und würden durch die üblichen Therapiemaßnahmen leichter absterben, erklärt der Wissenschaftler den Therapieansatz mit dem Gerinnungshemmer.
Maley und seine Kollegen vermuten, dass der entzündungshemmende Effekt von ASS der Grund dafür sein könnte, warum der Wirkstoff die Mutationsrate in Krebsgewebe verlangsamt. Entzündungen sind eine Antwort des Immunsystems und wurden in den letzten Jahren immer wieder mit Krebserkrankungen in Verbindung gebracht. „Eine schwächere Entzündung durch ASS führt im prämalignen Gewebe zu einer verringerten Produktion von Oxidantien, die bekanntlich die DNA schädigen“, erklärt Maley den Zusammenhang von ASS und einer verlangsamten Mutationsrate. Auf diese Weise würden für den Tumor wachstumsstimulierende Signale abgeschwächt. Wie nichtsteroidale entzündungshemmende Medikamente die Mutationsrate und die Entwicklung von Krebs genau beeinflussen, will Maley mit seinem Team in Zukunft näher untersuchen. Als Modell werden ihm die Krebsvorstufe Barrett-Ösophagus und Speiseröhrenkrebs dienen. Auch an Lungenkrebs wollen die Forscher die Zusammenhänge testen. Ihre Erkenntnisse könnten die heutigen Behandlungsstrategien für Krebserkrankungen verändern: „Anstatt alle Krebszellen abtöten zu wollen, könnte es besser sein, das Tumorwachstum und die Mutationen zu stoppen oder zu verlangsamen“, so Maley.
Bevor jedoch genau erforscht ist, welche Personengruppen in welchem Alter von welcher Dosis eines NSAID zur Krebsvorsorge profitieren könnten, ist von einer Einnahme dieser Medikamente allein zur Krebsprävention dringend abzuraten. Denn ASS ist keineswegs frei von Nebenwirkungen: Mit der Einnahme von ASS steigt das Risiko für schwere Blutungen im Magen, Darm oder Gehirn an. „Vor allem weil das Risiko nach der Einnahme sofort besteht und der Nutzen erst viel später eintritt, sollten beide gut gegeneinander abgewogen werden“, schrieb John Baron von der University of North Carolina School of Medicine bereits in einem Editorial zur amerikanischen Metastudie von 2012. Bis dahin sollte es zum Frühstück erstmal nur Kaffee und eine gute Zeitung geben – keine Aspirin!