Viele verbindet ein Schicksal: Sie leiden an seltenen Krankheiten. Die Medikamentenforschung auf diesem Gebiet ist aufwendig und meist nicht lukrativ. So auch bei der Badeanzug-Ichthyose. Eine Salbe ist als Therapie in Sicht, es findet sich aber keine Firma für deren Vermarktung.
Krankheiten gelten definitionsgemäß als selten, wenn weniger als eine von 2.000 Personen davon betroffen ist. In Deutschland also weniger als 40.000 Menschen. An der jeweiligen Erkrankung leiden somit zwar nur wenige Patienten, da es jedoch rund 5.000 bis 8.000 solcher Erkrankungen gibt, sind insgesamt Millionen Menschen betroffen. Der Status 'selten' kann sich mit der Zeit oder auch regional ändern. Bei AIDS beispielsweise hatte es sich anfangs um eine extrem seltene, dann um eine seltene Krankheit gehandelt, heute ist AIDS in vielen Bevölkerungen eine zunehmend häufige Krankheit. Bei der Häufigkeit des Auftretens spielen regionale Gegebenheiten eine Rolle. Lepra beispielsweise ist in Deutschland selten, aber häufig in Zentralafrika. Thalassämie, eine genetisch bedingte Form der Blutarmut, ist selten in Nordeuropa, aber in den Mittelmeerländern häufig. Jede Woche werden in der medizinischen Fachliteratur fünf neue seltene Krankheiten erstmals beschrieben!
Etwa 80 Prozent der seltenen Erkrankungen haben einen genetischen Ursprung oder beruhen auf genetischen Risikofaktoren. Für viele dieser Erkrankungen sind die Gene, die die Krankheit auslösen, noch nicht identifiziert. Bei anderen Erkrankungen sind nicht einmal Ansätze zur Erforschung ihrer Ursachen bekannt. In der Versorgung bestehen ebenso Defizite wie bei der Diagnostik und der Therapie. Schwierigkeiten bestehen vor allem hinsichtlich der Diagnosestellung, der Vermittlung qualifizierter Facheinrichtungen und der Verfügbarkeit relevanter Informationen. Viele seltene Krankheiten sind mit motorischen, sensorischen oder mentalen Einschränkungen assoziiert und können einer gesellschaftlichen Stigmatisierung unterliegen. Die Betroffenen sehen sich häufig psychologischen, sozialen, ökonomischen oder auch kulturellen Problemen ausgesetzt. Die größten Hoffnungen auf ein grundlegendes Verständnis aller seltenen Krankheiten erwachsen aus dem wissenschaftlichen Fortschritt, insbesondere dem Humangenomprojekt.
Aufgrund der individuellen Seltenheit dieser Krankheiten ist häufig auch das Fachwissen der Ärzte verständlicherweise unzureichend. Es ist für die Patienten deshalb problematisch, den richtigen Ansprechpartner zu finden. Nicht selten vergehen lange Jahre, bis die richtige Diagnose und dann die entsprechende Therapie gefunden wird. Seltene Erkrankungen können nicht immer von niedergelassenen Ärzten optimal behandelt werden. Trotzdem wollen sie jetzt gegen die Einrichtung von Spezialambulanzen an Krankenhäusern für die Behandlung betroffener Menschen vor dem Bundesverfassungsgericht vorgehen. Sie pochen auf ihre Berufsfreiheit und ihr Recht auf Gleichbehandlung. Die ACHSE (Allianz chronischer seltener Erkrankungen), die die etwa 4 Millionen Betroffenen in Deutschland vertritt, plädiert stattdessen für eine angemessene Vergütung bei der Versorgung von seltenen Erkrankungen, sowohl für die niedergelassenen als auch für die im Krankenhaus tätigen Ärzte.
Da die seltenen Krankheiten überwiegend genetischen Ursprungs sind, kann eine erste Anlaufstelle eine genetische Beratungsstelle sein. Der Berufsverband medizinische Genetik e. V. hilft hier weiter. Als weitere Informationsquelle im Internet steht die Plattform für seltene Krankheiten „ORPHANET“ zur Verfügung. „Orphan“ bedeutet Waisenkind und kennzeichnet die häufige Vernachlässigung dieser Erkrankungen. Die Datenbank enthält Informationen über Spezialambulanzen, Diagnoselabors, aktuelle Forschungsprojekte und Selbsthilfegruppen. Ein Onlinelexikon rundet das Angebot ab. Der dritte wichtige Ansprechpartner sind die einzelnen Selbsthilfegruppen. Auf der Internetpräsenz des ORPHANET sind viele Selbsthilfegruppen aufgelistet.
Ichthyosen sind eine Gruppe von Gendefekten, bei denen die Verhornung der Haut gestört ist. Bereits bei Neugeborenen ist die Haut entzündet, verhornt und erinnert an die Schuppen eines Fisches. „Ichthyose“ kommt von „ichthy“, der griechischen Wurzel für „Fisch“. Die Schuppen können hell oder relativ dunkel erscheinen, sie können eher fein aussehen oder auch größere Klumpen bilden. Angeborene Ichthyosen werden als kongenitale Ichthyosen bezeichnet. Werden sie erst in den ersten Lebenswochen oder –monaten sichtbar, bezeichnet man sie als vulgäre Ichthyosen. Die nichtkongenitalen, klinisch geringer ausgeprägten, Ichthyosen sind mit etwa 100.000 Betroffenen erheblich häufiger als die vulgären mit etwa 1.000 Betroffenen. Gemeinsamkeiten aller Ichthyosen sind eine geringere Wasserbindungskapazität und eine gestörte Barrierefunktion der Epidermis. Klinisch zeigt sich eine trockene, verhornte Haut. Bei generalisierten Varianten besteht einerseits eine Dehydrierungs- und Unterkühlungsneigung. Andererseits schwitzen die Patienten sehr wenig und sind nur unzureichend in der Lage, den Körper abzukühlen.
Die S-2-Leitlinie der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft (DDG) beschreibt die Ätiologie wie folgt: „Bei den Ichthyosen und den ihnen verwandten Verhornungsstörungen handelt es sich um Störungen der epidermalen Differenzierung. Als verursachend sind bisher genetisch bedingte Veränderungen von verschiedensten Komponenten der terminalen Differenzierung, z. B. von Strukturproteinen des Zytoskeletts (Keratine), von Zelladhäsionsproteinen, von Transmembranproteinen (Connexine) und des cornified cell envelope (Loricrin) bzw. von Enzymen zu dessen Aufbau (Transglutaminase 1) und des Lipidstoffwechsels der Haut (Transporter in Keratinosomen, Hepoxilin-Stoffwechsel) bekannt“. Die Krankheit ist selten, sehr selten: „Genau das ist der Grund, warum bisher nur wenig zu dieser Krankheit geforscht wurde und sich auch die Therapiemöglichkeiten in den vergangenen 30 Jahren kaum verbessert haben“, bedauert Prof. Dr. Heiko Traupe von der Klinik und Poliklinik für Hauterkrankungen am Universitätsklinikum Münster. Er ist Sprecher des Netzwerks für Ichthyosen und verwandte Verhornungsstörungen. Als Therapieoptionen werden derzeit u. a. angewendet:
Eine Sonderform der Ichthyose wird auch als Badeanzug-Ichthyose bezeichnet. Hier schuppt sich „nur“ die Haut der Brust und des Rückens, also genau die Körperpartien, die von einem Badeanzug bedeckt werden. An diesen Stellen ist die Haut wärmer als beispielsweise im Gesicht. In den Hautzellen von Patienten mit einer Badeanzug-Ichthyose konnte die Arbeitsgruppe um Prof. Heiko Taupe eine Mutation identifizieren, die auf die Temperatur der Haut reagiert. Es liegt ein Enzymdefekt der Transglutaminase-1 vor. An kühlen Körperstellen beträgt der Enzymgehalt nur etwa 5 Prozent im Vergleich zu Gesunden. „Wir wollten eine Salbe herstellen, mit der Patienten das fehlende Enzym äußerlich auf die Haut auftragen können.“ Die Wissenschaftler synthetisierten größere Mengen des Enzyms und packten es in Liposomen. In Zellkulturversuchen ist es gelungen, kranke Hautzellen so mit dem fehlenden Enzym zu beladen und die Störung temporär zu beheben. Bislang konnte noch kein Pharmaunternehmen gefunden werden, das die an der Westfälische Wilhelms-Universität Münster (WWU) in enger Kooperation mit der Arbeitsgruppe von Dr. Margitta Dathe am Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP) in Berlin und Prof. Traupe entwickelte Therapieform weiterentwickeln und vermarkten wollte. Mit der offiziellen EU-Einstufung als „Arzneimittel gegen seltene Leiden“ wird das Medikament wirtschaftlich interessanter. Pharmaunternehmen müssen keine Zulassungskosten zahlen und haben ab der Marktzulassung ein zehnjähriges Exklusivrecht am neuen Medikament. Auch wenn die Zahl der Betroffenen aus der Sicht er Industrie marginal ist, ist das Leiden eines jeden einzelnen Patienten immens. Es bleibt zu hoffen, dass ein Partner auf den dermalen Hoffnungsträger aufspringt.