Depressivität, Demenz, Bulimie und Diabetes gehen Hand in Hand. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft will mit ihrer neuen S2-Leitlinie gegensteuern. Wer Komorbiditäten erfolgreich beachtet, wird bei Patienten häufiger stabile Blutzuckerwerte erreichen.
Diabetes mellitus, weit mehr als eine Stoffwechselkrankheit: Zahlreiche neurologische und psychiatrische Leiden sind mit Insulinmangel oder Insulinresistenz vergesellschaftet. Entsprechende Zusammenhänge werden bei Therapien viel zu selten beachtet. Grund genug für die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG), zusammen mit weiteren Fachgesellschaften eine neue S2-Leitlinie zu verfassen. Laut DDG-Präsident Privatdozent Dr. Erhard Siegel erhoffe man sich „von allen Berufsgruppen und Patientenorganisationen, die mit der Betreuung von Diabetespatienten befasst sind, eine umfassende Umsetzung der Leitlinie in der gesamten Breite des deutschen Gesundheitssystems“.
Das wird auch bitter nötig sein: Im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung haben Menschen mit Typ-2-Diabetes ein bis zu vierfach erhöhtes Risiko, an gefäßbedingter Demenz zu erkranken. Die Alzheimer-Demenz wiederum tritt bis zu zwei Mal häufiger auf. Als mögliche Auslöser sieht die DDG langfristig erhöhte Blutzuckerspiegel mit negativen Folgen für Blutgefäße – nicht nur in den Augen oder Füßen, sondern auch im Gehirn. Bei Risikogruppen jenseits der 65 mit eingeschränkter, kognitiver Leistung rät die Leitlinie deshalb einmal pro Jahr zum Screening. Haben Ärzte sowohl Diabetes als auch Demenz nachgewiesen, sollten sie Betroffene besonders engmaschig kontrollieren: Laut einer aktuellen Studie ist das Risiko, schwere Hypoglykämien zu erleiden, deutlich erhöht. Patienten können Medikation und Ernährung nicht mehr aufeinander abstimmen. Schwere Unterzuckerungen sind die Folge – was nicht ohne Folgen für das Gehirn bleibt. Bleiben einfache Therapiekonzepte als Lösung, um weder Patienten noch Pflegekräfte zu überfordern. Auch empfiehlt die Leitlinie einen Langzeit-Blutzucker im mittleren Bereich, was HbA1c-Werten von etwa acht Prozent entspricht.
Gefahren lauern auch bei Schizophrenie-Patienten. Sie erkranken doppelt so oft an Typ-2-Diabetes wie die Normalbevölkerung. Zahlreiche Veröffentlichen sehen die Schuld vor allem im ungesunden Lebensstil, was aber nur ein Teil der Wahrheit ist. Darüber hinaus gelten atypische Antipsychotika als Risikofaktoren für Diabetes und Adipositas. Beispielsweise lässt Clozapin die Waage in weniger als drei Wochen um sechs Kilogramm in die Höhe schnellen. Quetiapin und Olanzapin zeigen ähnliche Effekte. Hier rät die Leitlinie, Risikopatienten mit Präparaten einzustellen, die keine Gewichtszunahme bewirken. Ein metabolisches Basisscreening kann auch dazu beitragen, bei entsprechenden Gefahren frühzeitig zu intervenieren.
Ein weiteres Problemfeld: Laut DDG haben – gemessen am Bevölkerungsdurchschnitt – doppelt so viele Diabetiker eine Depression. Jeder Dritte leidet unter erhöhter Depressivität, und bei jedem Achten manifestiert sich die Erkrankung. Häufig bleiben seelische Leiden unentdeckt – sprich unbehandelt. Privatdozent Dr. Bernhard Kulzer, Vorsitzender der DDG-Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Psychologie, kritisiert: „Nur bei jedem dritten Patienten wird beispielsweise nach psychischen Belastungen im Zusammenhang mit Diabetes gefragt.“ Betroffene stehen unter einem hohen Leidensdruck, was auch dem Blutzuckerwert schadet. Eine gute Diabeteseinstellung gelingt in den seltensten Fällen, da Patienten mit dieser Komorbidität ihre Krankheit nicht selbstständig in den Griff bekommen. Früher oder später sind sie im Teufelskreis gefangen: Schlechte Stoffwechselparameter forcieren eine depressive Symptomatik, und seelische Probleme begünstigen wiederum die Wahrnehmung körperlicher Beschwerden. Als Konsequenz sinkt die Lebensqualität, und bei langfristigem Verlauf erhöht sich auch die Mortalität. Ärzte sollten mit Hilfe weniger Fragen nach den Symptomen fahnden. Bei entsprechenden Anhaltspunkten sind detaillierte Untersuchungen erforderlich, gefolgt von einer Psychotherapie oder Pharmakotherapie. Kombinationen bieten sich in schweren Fällen an.
Damit nicht genug: Junge Frauen mit Typ-1-Diabetes kämpfen fast doppelt so häufig mit Essstörungen wie ihre gesunden Altersgenossinnen. Bei ihnen nagt die Stoffwechselerkrankung oft am eigenen Selbstwert. Statt das Leben zu genießen, stehen Arztbesuche, Medikamente und Diäten im Mittelpunkt. Mögliche Folgen: Bulimie, Laxantienabusus, Diäten, exzessiver Sport oder „Insulin-Purging“: Patientinnen dosieren ihr Hormon bewusst zu niedrig, um Kalorien über den Urin abzugeben. Zwar verlieren sie rasch an Gewicht. Ihr ständig überhöhter Blutzuckerspiegel führt aber in kurzer Zeit zu Retinopathien, Nephropathien oder Neuropathien. Als Warnzeichen gelten starke Schwankungen des Blutzuckers und des Gewichts. Dann sollten Ärzte nach einer Bulimia nervosa fahnden. Bei Typ-2-Diabetes und Adipositas können Binge-Eating-Störungen, also periodische Essattacken ohne nachfolgendes Erbrechen, dem Blutzucker arg zusetzen. Bestätigen sich erste Verdachtsmomente, steht eine Psychotherapie an erster Stelle. Erfahrene Therapeuten, die sich ebenfalls mit Diabetes auskennen, seien zu bevorzugen, heißt es von der DDG.
Bernhard Kulzer weist in diesem Zusammenhang auf etliche Schwachstellen hin: Nach wie vor fehlen universitäre Einrichtungen für Diabetes und Verhaltensmedizin nach holländischem Beispiel. Auch gibt es keine Beratungsstellen für Diabetes-Patienten mit psychosozialen Problemen. Damit bleibt die Verantwortung bei Haus- und Fachärzten hängen, eigene Abrechnungsziffern für psychosoziale Leistungen bei Diabetes haben sie nicht. Hier helfen einfache Screenings, die nur wenige Minuten in Anspruch nehmen, um seelische Erkrankungen zu entlarven. Auch müssten Strukturen wie psychologische Sprechstundenpraxen geschaffen werden, um zeitnah zu intervenieren – 12 bis 14 Sitzungen reichen in vielen Fällen aus. Patienten profitieren von besonders geschulten Therapeuten, etwa „Fachpsychologen Diabetes (DDG)“ oder Psychodiabetologen. Ihnen wird die Arbeit sicher nicht ausgehen: Wie aus dem Gesundheitssurvey 2012 hervorgeht, haben 7,2 Prozent aller Deutschen einen bekannten Diabetes, und bei weiteren 2,1 Prozent liegt die Krankheit unentdeckt vor.