Wissenschaftler präsentieren nun im Zuge einer Studie eine neue Sichtweise auf menschliche Hirnfunktionen und sehen in ihren Ergebnisse neue Perspektiven für das Verständnis des Gehirns.
Ein Großteil der Hirnforschung folgt seit Jahrzehnten einem traditionellen Ansatz: Ein Gehirnareal wird in seiner Aktivität gehemmt oder aktiviert, die resultierenden Effekte in anderen Regionen – oder im gesamten Organ – werden gemessen. Obwohl diese Methode sehr erfolgreich ist, wenn es um die Signalverarbeitung zwischen Sinnesorganen und Gehirn geht, halten Freiburger Wissenschaftler um Dr. Arvind Kumar vom Bernstein Center und dem Exzellenzcluster BrainLinks-BrainTools der Universität Freiburg sie für die Untersuchung anderer Hirnbereiche für zu simpel. Die Ergebnisse des Forschungsteams sind in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins „Trends in Neuroscience“ erschienen. „Der traditionelle Ansatz reduziert die Komplexität des Gehirns, indem Wissenschaftler das Organ für die Untersuchung relativ willkürlich in Untereinheiten einteilen“, sagt Kumar. Diese Herangehensweise funktioniere aber nur, wenn Informationen zwischen diesen Untereinheiten nur in eine Richtung weitergeleitet würden. Im Gehirn sei dies jedoch nicht der Fall, da es aus einem komplexen Netzwerk von Unternetzwerken besteht, die viele Rückkopplungen enthalten. Allein für ein Netzwerk aus zehn Einheiten müssten Forscher mehr als einhunderttausend Experimente machen, um die genaue Rolle jeder Einheit zu bestimmen – ein Aufwand, der schlicht unmöglich sei. In einem Netzwerk aus fünf Elementen müssen bereits 52 Kombinationen (umkreisende Symbole) einzeln getestet werden, um die Rolle jedes Elements zu bestimmen. In den meisten Fällen ist dieser Ansatz für die Hirnforschung unbrauchbar. © Bild: Grah/BrainLinks-BrainTools, Symbole: Mate2code, Creative Commons „Vielleicht ist die wichtigste Frage bei der Erforschung des Gehirns nicht, wie eine Region die Aktivität anderer Regionen beeinflusst, sondern vielmehr, wie die Nervenzellen von einem Aktivitätszustand in einen anderen wechseln“, stellt Kumar fest. Dazu führen die Wissenschaftler eine neue Eigenschaft von Nervenzellen ins Feld: die Einbettung. Damit ist gemeint, wie groß die Rolle einer Nervenzelle im umgebenden Netzwerk ist. Die Kenngröße vereint Informationen darüber, woher eine Nervenzelle Reize erhält, wohin sie diese weiterleitet und wie sehr diese Zelle das gesamte Netzwerk beeinflusst. Die Wissenschaftler verbinden diese Idee mit der Erkenntnis, dass schon wenige Elemente das Gesamtverhalten eines Netzwerks bestimmen können. Konzentriere sich die Forschung auf solche „führenden Nervenzellen“, könne schon die Beeinflussung weniger Zellen neue Erkenntnisse über die Dynamik des gesamten Netzwerks liefern. Hiervon erhofft sich das Freiburger Team neue Perspektiven – nicht nur für das Verständnis des Gehirns und seiner Funktionen, sondern auch seiner Erkrankungen. Originalpublikation: Challenges of understanding brain function by selective modulation of neuronal subpopulations Arvind Kumar et al.; Trends in Neuroscience, doi: doi: 10.1016/j.tins.2013.06.005; 2013