Forscher sind sich einig: Dreidimensionale Drucktechniken revolutionieren die Orthopädie. In wenigen Jahren schon könnten maßgeschneiderte Exoskelette altehrwürdige Gipsbinden ersetzen. Darüber hinaus arbeiten viele Labors an Knochen nach Maß.
Ein Überbleibsel aus früheren Zeiten: Seit 1851 verwenden Orthopäden Gipsverbände, um Frakturen ruhigzustellen. Als vermeintliche Innovation gibt es mittlerweile Kunststoff-Casts. Sie haben bei geringerem Gewicht eine höhere Festigkeit, härten schneller aus und quellen durch Wasser nicht auf. Dem gegenüber stehen höhere Kosten sowie die Entsorgung des nicht ganz unproblematischen Materials. Auch sind Castverbände noch schlechter für Wasserdampf und Luft durchlässig als die Gipsvariante. Jetzt wendet sich das Blatt.
Jake Evill, Absolvent der Victoria University in Wellington, Neuseeland, kennt das Problem nur allzu gut. Nachdem sich der Medien- und Industriedesigner seine Hand gebrochen hatte, bekam er einen Gipsverband. Evill war überrascht, wie wenig patientenfreundlich diese Maßnahme doch ist – zwei Kilogramm schwerer, juckender „Verputz“ am Arm erschienen ihm doch etwas archaisch zu sein. Während der warmen Monate schwitzen Patienten immens, was schnell zu unguten Gerüchen führt. In Ermangelung besserer Alternativen machte sich Evill selbst an das Werk. Das Ergebnis: Cortex, ein Exoskelett mit wabenförmigen Strukturen und großen, offenen Zwischenräumen. Als Grundstoff kommen Polyamide wie Nylon zum Einsatz. Bei ausgezeichneter Festigkeit und Zähigkeit erweist sich das Material als sehr leicht. Das lässt sich durch zwischenmolekulare Wasserstoffbrückenbindungen erklären, vergleichbar mit Proteinen.
Auch beim Cortex beginnt alles mit einer Röntgenaufnahme, um die exakte Position von Frakturen zu bestimmen. Hinzu kommen dreidimensionale Scans der betroffenen Extremität. Evill arbeitet hier mit Kinect, einer Hardware zur Steuerung der Xbox 360. Dann muss Kollege Computer ran: Aus diesen Daten lässt sich berechnen, welche Geometrie das Exoskelett haben muss, um gut zu sitzen und Halt zu geben, wo dies nötig ist. Zur dreidimensionalen Modellierung verwendete der Tüftler ZBrush, ein Grafikprogramm von Pixologic. Schließlich wurden alle Daten in die Niederlande übertragen. Shapeways, Spezialist für dreidimensionale Drucke, produzierte daraus ein Exoskelett: weniger als 500 Gramm schwer und drei Millimeter dünn. http://www.youtube.com/watch?v=f2Ja7vmIlMs
Kritisch betrachtet hat das neue Konstrukt zwei gravierende Nachteile: Im Vergleich zu Gipsverbänden oder Kunststoff-Casts ist mit deutlich höheren Kosten zu rechnen. Das betrifft sowohl Hard- und Software als auch das Material selbst. Darüber hinaus rechnet Evill mit rund drei Stunden, bis ein Exemplar fertig ist – im Vergleich zu maximal zehn Minuten beim klassischen Verfahren. Nach getaner Arbeit erfüllt Cortex seine Funktion aber sofort, während Gips erst nach einem Tag komplett ausgehärtet ist. Ansonsten sehen Ärzte gleich mehrere Vorteile: die exakte Geometrie, das geringe Gewicht beziehungsweise die ästhetische Qualität. Patienten können sich ganz normal duschen oder baden, und ihre Haut wird gut belüftet. Langärmlige Hemden, Blusen oder lange Hosen? Kein Problem. Bleibt noch der Umweltaspekt: Für eine Stütze ist generell sehr wenig Kunststoff erforderlich. Alle verwendeten Polymere lassen sich nach erfolgreicher Heilung durch Umschmelzen recyceln.
Während das Exoskelett noch perfektioniert werden muss, bis Kliniken und Praxen davon profitieren, sind andere 3D-Techniken in der Orthopädie schon deutlich weiter entwickelt. Professor Dr. Jules Poukens, Belgien, stand vor der Herausforderung, eine betagte Patientin mit chronisch-entzündlichen Vorgängen im Unterkiefer zu behandeln. Aufgrund ihres Alters bewertete er Maßnahmen zum Knochenaufbau inklusive langer OP-Zeiten als kritisch. Seine Alternative: Nach dreidimensionaler Vermessung entstand ein passgenaues Titanimplantat. Über kräftige Laser wurde Titanpulver millimetergenau in die endgültige Form gebracht. Vor dem Eingriff überzog Poukens sein Werkstück noch mit biokeramischen Schichten. Britische Ärzte standen vor ähnlichen Problemen. Sie mussten bei einem Patienten große Bereiche des Schädelknochens entfernen. Auf Basis diverser CT-Aufnahmen fertigten sie eine 3D-Rekonstruktion an. Das Knochenstück selbst bestand aus Polyetherketonketon (PEKK).
Bleibt als Zukunftsperspektive, mit 3D-Druckern Implantate zu erzeugen, die vom Körper integriert werden. In Deutschland arbeitet Cynthia M. Gomes, Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM), an keramischen Werkstücken. Ihre Vision: Während der Operation scannen Chirurgen Knochendefekte – und erhalten umgehend passende Implantate. Diese bestehen zu 60 Prozent aus Poren, damit Zellen gut einwachsen. Schließlich resorbiert der Körper anorganische Komponenten. Gomes ist zuversichtlich, dass in fünf Jahren erste Implantate zum Einsatz kommen könnten. An der Washington State University hat Professor Amit Bandyopadhyay viel Energie in dreidimensionale Drucker gesteckt. Sein Prototyp erzeugt keramische Ersatzknochen, die biologischen Vorbildern zum Verwechseln ähneln. Erste Tests an Ratten sowie an Hasen verliefen erfolgreich. Bis Menschen von der neuen Technik profitieren, vergehen seiner Schätzung zufolge noch mindestens zehn Jahre. Professor Kevin Shakesheff von der University of Nottingham verfolgt eine andere Strategie – er baut mit Biodruckern künstliche Knochen auf. Als Basis dienen CT-Scans, um ein Template zu generieren. Dann tragen Bioprinter Stammzellen auf. Im Körper wird diese Grundstruktur sukzessive durch eigenes Knochengewebe ersetzt. Shakesheff präsentierte sein Verfahren kürzlich auf der Royal Society´s Annual Summer Science Exhibtion in London.
Während Ingenieure dreidimensionale Scan- und Druckverfahren schon länger zur Erstellung von Werkstücken einsetzen, waren Medizin anfangs eher skeptisch. Mittlerweile versuchen Arbeitsgruppen weltweit, mögliche Anwendungen für Patienten auszuloten. Bei künstlichen Knochen und Exoskeletten sieht die Sache vielversprechend aus. Jenseits der Orthopädie arbeiten Labors auch an Lebern, Nieren oder Herzen aus dem 3D-Biodrucker: eine langfristige Perspektive angesichts des steigenden Bedarfs bei sinkender Bereitschaft zur Organspende.