Das Diagnosesystem zielt hauptsächlich auf betroffene Männer ab. Die oft erst im Jugendalter gestellte Diagnose beschert Mädchen und Frauen mit Asperger-Syndrom meist lange Leidenswege, die vermeidbar wären. Ein Ratgeber will Abhilfe schaffen.
„Mädchen und Frauen mit Asperger-Syndrom sind fast unsichtbar – eine Minderheit innerhalb einer Minderheit. Sie fallen zu oft und zu lange durch das auf männliche Ausprägungen angelegte Diagnosesystem“, so die zentrale Aussage der Autorin Dr. Christine Preißmann – Ärztin und selbst betroffen – in ihrem Buch „Überraschend anders – Frauen und Mädchen mit Asperger“ beschreibt.
Lange ging die Fachwelt von einem Geschlechterverhältnis von einem Mädchen mit Asperger-Syndrom auf sechs bis acht betroffene Jungen aus. Inzwischen diskutieren Experten darüber, ob eine Verteilung von 1:4 oder 1:2,5 nicht eher der Realität entspricht. Viele europäische Länder berichten von einer steigenden Anzahl von Mädchen und Frauen mit einer Diagnose aus dem autistischen Spektrum. Doch anders als bei Jungen wird diese meist erst im Jugendalter gestellt. „Im Moment scheinen die richtige Diagnose und die adäquate Unterstützung eher Glückssache zu sein“, so Preißmann. Darunter leiden die betroffenen Mädchen meist sehr, denn sie fragen sich oft jahrelang nach dem Grund ihres Andersseins und der damit häufig verbundenen Einsamkeit. Schuld daran seien vor allem die geltenden Diagnosekriterien, die eher die männliche Ausprägung des Asperger-Syndroms berücksichtigten. „Höchste Zeit also für ein Buch, in dem es um die weibliche autistische Sicht geht“, so die Allgemeinärztin über ihre Intention.
„Die Symptome des Asperger-Syndroms äußern sich bei Mädchen subtiler und sind meist weniger stark ausgeprägt“, weiß Preißmann aus eigener Erfahrung. Mädchen seien in der Regel ruhiger und könnten ihr Verhalten besser kontrollieren als betroffene Jungen. Daher würden sie eher als „seltsam“ wahrgenommen werden, nicht jedoch als umfassend beeinträchtigt. So werde beispielsweise der mangelnde Blickkontakt bei Frauen eher auf Schüchternheit zurückgeführt, als mit Autismus in Verbindung gebracht. „Um nicht aufzufallen und möglichst „unsichtbar“ in einer Gruppe mitlaufen zu können, ahmen Mädchen mit Asperger-Syndrom oft andere Mädchen nach und versuchen deren Verhalten, die Mimik und Gestik der anderen Mädchen zu kopieren“, schreibt Preißmann. Im Gegensatz zu den meisten Jungen könnten Mädchen mit Asperger-Syndrom durchaus eine beste Freundin haben. Die für das Asperger-Syndrom typischen Spezialinteressen, die durch häufiges Anordnen und Kategorisieren geprägt sind, werden meist alleine ausgelebt. Das ist bei Jungen ähnlich. Doch die Spezialinteressen betroffener Mädchen ähneln oft denen ihrer Altersgenossen und fallen daher nicht auf. Es sei vielmehr die Intensität und die Qualität dieser Interessen, die besonders sei. All diese Kriterien müssten bei der Diagnosestellung berücksichtigt werden, „um das stille Leiden vieler Mädchen und Frauen mit Autismus zu beenden“, so die Ärztin.
Preißmann weist auch auf die einzigartige Stellung von Lehrern hin, wenn es darum geht, Auffälligkeiten bei Mädchen zu bemerken. In der Regel sind nur sie in der Lage, eine Schülerin mit der gesamten Klassengemeinschaft zu vergleichen. Bei einer Kombination folgender Merkmale sollten Lehrer und Psychologen laut Preißmann eine autistische Störung bei Mädchen in Betracht ziehen:
„Eine frühzeitige Diagnose kann viele Schwierigkeiten, Demütigungen und Verletzungen verhindern, die die Betroffenen auf ihrem Lebensweg erfahren“, so Preißmann. Auch im Hinblick auf eine angemessene Unterstützung sei eine frühe Diagnose vorteilhaft. Diese benötigten Mädchen und Frauen mit Asperger Syndrom vor allem in folgenden Lebensbereichen:
Dabei hätten sich sowohl ein Training in Gruppen, als auch die Teilnahme an Selbsthilfegruppen oder Einzelmaßnahmen aus Psycho- und Ergotherapie als hilfreich erwiesen.
Oft sind es auch ganz kleine, unkomplizierte Dinge, die Mädchen mit Asperger-Syndrom das Leben beträchtlich erleichtern können. So beschreiben alle Betroffenen in Preißmanns Buch ihre Schulzeit als grausam und extrem belastend, denn Schule bedeutete für sie Isolation, Stress und Verwirrung. Viele Mädchen mit Asperger-Syndrom haben mit unerwarteten Ereignissen große Probleme und sind schnell reizüberflutet. Wenn sie dagegen rechtzeitig über anstehende Veränderungen wie Raumwechsel oder Freistunden informiert sind, reduziert sich die Angst der Mädchen oft beträchtlich. Sich während der Pausen in einen ruhigen Klassenraum zurück ziehen zu können oder für Leistungsabfragen wie Klassenarbeiten etwas mehr Zeit zur Verfügung zu haben, beschreiben die meisten Mädchen auch als große Erleichterung in ihrem sonst belastenden Schulalltag. Diese Besonderheiten sind für Lehrer mutmaßlich nicht allzu schwierig umzusetzen, wenn sie denn bekannt sind.
Preißmann weiß, wie wichtig Individualität für die Betroffenen ist. Frauen mit Asperger-Syndrom seien auf Hilfe angewiesen, wenn es darum geht, sich an bestehende gesellschaftliche Konventionen anzupassen – oder eben auch nicht und ganz bewusst auf ihre ganz eigene Weise glücklich zu sein. Ihr Ratgeber zielt weniger auf eine „Normalisierung“ der betroffenen Mädchen und Frauen, als vielmehr darauf, die belastende Symptomatik zu reduzieren und die Familien zu entlasten. Wer Anlaufstellen sucht, gelangt über den Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus „Autismus Deutschland e.V.“ zu den Kontaktdaten der Landesverbände.