Übergewicht gilt als wichtiger Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Doch auch fast jeder fünfte schlanke Mensch ist gefährdet. Diabetologen fanden heraus: Fehlendes Fett an Beinen und Hüfte kann ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse vorhersagen.
Dass starkes Übergewicht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und damit für einen vorzeitigen Tod deutlich erhöht, ist inzwischen in vielen Studien belegt. Umgekehrt ist ein Body Mass Index (BMI) im Normalbereich (nach Definition der WHO zwischen 18,5 und 25 kg/m²) mit dem geringsten allgemeinen Sterberisiko verbunden. Allerdings hängt das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht nur vom BMI ab. Ein Forscherteam aus Tübingen und München hat nun erstmals festgestellt, dass eine geringe Fettmasse an Beinen und Hüfte bei Normalgewichtigen mit einem erhöhten Risiko für Stoffwechselstörungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zusammenhängt. Aus bisherigen Untersuchungen ist bekannt, dass das Risiko für metabolische Störungen nicht nur vom Körpergewicht abhängt. So haben Übergewichtige mit gesundem Stoffwechsel nur ein mäßig erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und ein mäßig erhöhtes Sterberisiko: Im Vergleich zu gesunden Normalgewichtigen sind diese um etwa 25 Prozent erhöht. Bei Menschen mit normalem Gewicht und metabolischen Risikofaktoren sind diese Risiken dagegen sogar höher als bei metabolisch gesunden Übergewichtigen: sie sind gegenüber gesunden Normalgewichtigen um etwa das Dreifache erhöht. Normalgewichtige mit metabolischen Risikofaktoren haben ein mehr als dreifach erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. © IDM Zu den wichtigsten Risikofaktoren des metabolischen Syndroms, das die Wahrscheinlichkeit für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und einen vorzeitigen Tod deutlich erhöht, zählen:
Etwa 20 Prozent der Normalgewichtigen sind von solchen metabolischen Risikofaktoren betroffen.
Wissenschaftler um den klinisch-experimentellen Diabetologen Norbert Stefan vom Universitätsklinikum Tübingen haben an 981 Probanden untersucht, welche speziellen Merkmale normalgewichtige Menschen mit metabolischen Risikofaktoren kennzeichnen und ob sich diese von den Merkmalen bei übergewichtigen Menschen mit solchen Risikofaktoren unterscheiden. Dabei interessierte die Forscher vor allem, welche Rolle die Fettverteilung im Körper für das metabolische Risiko spielt. Dazu gehören das Unterhautfett (subkutanes Fett), das vor allem an Hüften, Po und Beinen vorkommt, das Bauchfett (viszerales Fett), das sich am Bauch, aber auch in der Bauchhöhle um die inneren Organen einlagert, sowie das Fett in der Leber. Als metabolisch gesund stuften sie Teilnehmer ein, die weniger als zwei Risikofaktoren des metabolischen Syndroms aufwiesen. Nach dieser Definition waren 18 Prozent der normalgewichtigen Probanden metabolisch nicht gesund – das entspricht ziemlich genau den Daten aus anderen Studien. Im nächsten Schritt bestimmten die Forscher mithilfe der Magnet-Resonanz-Tomographie und der Magnet-Resonanz-Spektroskopie die Körperfettmasse, die Fettverteilung im Körper und Fetteinlagerungen in der Leber. Zudem erfassten sie die Insulinsensitivität, die Insulinausschüttung und die Fitness der Probanden.
Norbert Stefan, Professor für klinisch-experimentelle Diabetologie an der Klinik für Innere Medizin IV des Universitätsklinikums Tübingen. © Norbert Stefan Dabei stellten Stefan und sein Team fest, dass eine geringe Fettmasse an Beinen und Hüfte der wichtigste Faktor war, der bei Normalgewichtigen ein erhöhtes metabolisches Risiko vorhersagte. Bei Übergewichtigen bestimmten dagegen eine nicht-alkoholische Fettleber und ein erhöhter Bauchfettanteil dieses Risiko am stärksten. Zwar trug der Bauchfettanteil auch bei Normalgewichtigen zu einem erhöhten metabolischen Risiko bei, war jedoch ein verhältnismäßig schwacher Prädiktor. Mithilfe ihrer Ergebnisse sowie genetischer Daten und Daten aus Tierstudien kamen die Forscher zu dem Schluss, dass ein Problem der Fettspeicherung in Beinen und Hüfte bei normalgewichtigen Menschen ein wesentlicher Faktor für ein erhöhtes kardio-metabolisches Risiko sein könnte. Der Stoffwechsel der Betroffenen könnte dem der Patienten mit einer so genannten Lipodystrophie ähneln, bei der es meist zu einer ausgeprägten Verminderung des Unterhautfettgewebes kommt. Neben Veränderungen bei der Fettspeicherung kommt es bei ihnen häufig auch zu Insulinresistenz, einem erhöhten Blutzucker, Störungen des Fettstoffwechsels und einem erhöhten Blutdruck.
„Es könnte sein, dass sich eine ungünstige Verteilung des Fettgewebes im Körper direkt auf die Entstehung der Risikofaktoren des metabolischen Syndroms auswirkt“, erläutert Stefan. „So deuten bisherige Ergebnisse deuten darauf hin, dass bei Menschen, bei denen die Speicherkapazität des Unterhautfettgewebes in Hüfte und Beinen gering ist, das Fett stattdessen als Bauchfett oder in der Leber gespeichert wird.“ Studien legen nahe, dass diese fehlende Speicherfähigkeit des Unterhautfettgewebes genetisch bedingt ist. Das Problem dabei: Das Fett in der Bauchhöhle und in der Leber erhöht das Risiko für metabolische Störungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich. So hat eine Reihe von Studien gezeigt, dass ein erhöhter Bauchumfang (bei Frauen über 80 cm, bei Männern über 94 cm) ein wichtiger Risikofaktor für Krankheiten wie koronare Herzkrankheit, Schlaganfall und Typ-2-Diabetes ist. Zwischen dem Bauchumfang und der Menge an Fett in der Bauchhöhle besteht ein enger Zusammenhang. Typische Veränderungen der Fettverteilung im Lauf des Lebens könnten mit dem Risiko für metabolische und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zusammenhängen. „Charakteristisch bei Männern ist, dass sie Fett vor allem am Bauch anlagern und selten dicke Beine haben“, sagt Stefan. „Bei Frauen verändert sich die typische Fettverteilung nach der Menopause durch den Rückgang des Hormons Östrogen: Während sie vorher das Fett eher an Beinen, Hüfte und Po anlagern, zeigt sich nun eine eher ‚männliche‘ Fettverteilung mit vermehrtem Bauchfett und weniger Fetteinlagerungen an Beinen und Hüfte.“ Diese Körperform könnte eng mit einem erhöhten Risiko für kardio-metabolische Störungen zusammenhängen. So zeigt eine aktuelle Studie aus China mit 3015 normalgewichtigen Teilnehmern, dass ein erhöhter Bauchumfang bei älteren Menschen, vor allem bei älteren Frauen, ein wichtiger Risikofaktor für Stoffwechselstörungen ist.
Für die klinische Praxis bedeuten die Ergebnisse, dass Ärzte auch bei normalgewichtigen Patienten „genauer hinschauen“ sollten – vor allem, wenn diese zwei oder mehr Risikofaktoren des metabolischen Syndroms aufweisen. „Erstens sollten sie diese Risikofaktoren ernst nehmen und angemessen behandeln – auch wenn der Risikofaktor Übergewicht fehlt“, betont Stefan. „Zweitens sollten Ärzte bei der Beurteilung des metabolischen Risikos auch auf den Körperbau achten und diesen Aspekt in die Behandlung miteinbeziehen: Fällt auf, dass ein Patient wenig Fett an Hüfte und Beinen hat, sollte dies als zusätzlicher Risikofaktor berücksichtigt werden.“ In diesem Fall sollte sorgfältig untersucht werden, ob metabolische Risikofaktoren oder Stoffwechselerkrankungen wie eine gestörte Glukosetoleranz, eine Fettleber oder Arteriosklerose vorliegen, um frühzeitig eine geeignete Behandlung einleiten zu können. „Weiterhin könnte bei normalgewichtigen Menschen, bei denen ein Typ-2-Diabetes vorliegt, und in Zukunft möglicherweise auch bei Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, eine Behandlung günstig sein, die das Unterhautfett erhöht“, sagt Stefan. Dabei könnten so genannte Insulin-Sensitizer (Glitazone) in Frage kommen – Medikamente, die die Aufnahme von Blutzucker ins Gewebe fördern und die bei der Behandlung von Diabetes eingesetzt werden. „Studien haben gezeigt, dass diese zu einer Umverteilung des Fettgewebes mit einer Verringerung des Bauchfetts und einer Zunahme des Unterhautfetts führen“, erläutert Stefan. In Zukunft sollten weitere Studien durchgeführt werden, um das metabolische Risiko bei normal- und übergewichtigen Menschen anhand von Merkmalen des Organismus besser einschätzen zu können. „Dies könnte es ermöglichen, personalisierte Maßnahmen zur Vorbeugung und Behandlung von metabolischen Risikofaktoren und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu empfehlen, etwa Veränderungen des Lebensstils oder auch medikamentöse Maßnahmen“, so Stefan. Wichtig sei auch, gezielt Medikamente zu entwickeln, die zu einer Umverteilung des Fettgewebes im Körper führen. Sie könnten sowohl bei Normalgewichtigen mit metabolischen Risikofaktoren als auch bei Übergewichtigen eingesetzt werden.